Buch 04: Die Bewusstwerdung der Person

Die Lehre vom Ich

Diskurs 04.04


Hat der Mensch einen freien Willen?
Teil 1: Das Pro und Contra zum freien Willen beginnt schon in der Antike

(1) Epikur  versus  Demokrit

Einstieg:
Schon in der klassischen Naturlehre der Antike ging es um letzte Dinge. Seit Thales aus Milet (-613 bis -546)1 haben sich Naturphilosophen Jahrhunderte lang mit immer neuen Erklärungsversuchen an das Phänomen Natur und Mensch herangetastet. Dabei war Ihnen schnell klar, dass nicht die Götter oder ein Gott, sondern die Materie der Ursprung allen Seins sein müsse.

1.1. Demokrit (-460 bis -380)

Demokrit aus Abdera in Thrakien

Demokrit ging dabei aufs Ganze. Mit seiner scharfen analytischen Logik definierte er ein in sich  geschlossenes materialistisches Natursystem, die erste säkulare Seinstheorie des Vernunft denkenden Menschen überhaupt. Natürlich ist unser heutiges mikro- und makrokosmisches Vorstellungsmodell des Kosmos unvergleichlich differenzierter und genauer. Dennoch liegen den heutigen Erkenntnissen Strukturen zu Grunde, die schon damals von Demokrit erkannt worden sind. Als ein erstes Eindenken in unsere Argumentation fassen wir das demokritische Modell in sieben Hauptpunkten zusammen:

1] Wenn man einen Gegenstand halbiert und auch die Hälfte halbiert und immer wieder die Hälfte halbiert, dann kommt man an ein Ende, an dem der Restteil so klein ist, dass er nicht mehr teilbar ist, griechisch: atomos – das Unteilbare, das Atom, das kleinste denkbare unteilbare Materieteilchen. Dieses kleinste Teilchen ist schon für Demokrit so klein, dass man es mit den Augen nicht erkennen kann.

2] Jeder Gegenstand lässt sich auf ein Atomos zurückführten, auf sein spezifisches atomos. Es gibt deshalb eine unbegrenzte Anzahl von atomoi, von Atomen. Sie sind als Grundsubstanz unzerstörbar ewig.

3] Der Weltraum ist ein total leerer Raum, das Nichts. Dieses Nichts ist da, wo die atomoi nicht sind. Auch er besteht ewig, ohne Anfang, ohne Ende. Er ist also nicht geschaffen, schon gar nicht von Göttern oder einem Gott.

4] Dieser Weltraum ist angefüllt mit der endlosen Zahl der Atome. Die Masse der unterschiedlichen Atome bildet die Materie. Auch die Materie besteht also ewig und ist unzerstörbar. Sie ist nicht geschaffen, weder von Göttern, noch von einem Gott.

5] Die Atome befinden sich im leeren Weltraum in einer exakt senkrecht fallenden Bewegung. In ihrer Falllinie treffen sie auf gleichartige Atome. Durch ihr Zusammentreffen entwickelt sich die Fortsetzung ihrer Seinsart.

6] Alle Phänomene entwickeln sich aus ihren Atomen selber, wobei diese durch ihre spezifische Urform das Ziel, griechisch: das telos, ihrer Entwicklung in sich tragen.

7] Die Fallbewegung der Atome im Kosmos entsteht durch einen kosmischen Wirbel.

Fazit:
Aus diesem Denksystem heraus entstand naturphilosophisch schon bei Demokrit ein physikalischer Determinismus. Demokrit ist der Urvater eines absolut deterministischen Materialismus: Alles unterliegt einer zwanghaften Notwendigkeit der Natur. Auch alle geistigen Phänomene sind aus einem architypischen Prinzip, griechisch: en arche, vorausbestimmt. Eine Abweichung aus diesem System ist unmöglich.

1.2. Epikur (-341 bis -271)

Epikur von Samos

 Er war einer der ganz großen Verehrer Demokrits. Nicht nur das. Er war vom Fach her selber Physiker. Auch sein Fachdenken gründete in einem materialistischen Determinismus. Der altrömische Schriftsteller Lukrez beschreibt in seinem epochalen Lehrgedicht DE RERUM NATURA – ÜBER DIE NATUR Epikurs Naturphilosophie auf dem Hintergrund des demokritschen Materialismus detailliert in seinem ersten und zweiten Buch. Unter dem Leitsatz Nichts kann je aus dem Nichts entstehen durch göttliche Schöpfung – Nullam rem e nihilo gigni divinitus umquam (Buch I., Z. 150) definiert er die Unsichtbaren Atome. Das Atom und das Vakuum. Die Unteilbarkeit der Atome. Die Atombewegung. Die Atomgeschwindigkeit. Die Form der Atome. Die Begrenzte Zahl der Atomformen. Die Unbegrenzte Zahl der ähnlichen Atome. Und: Die Deklination der Atome. Dazu eine große Zahl weiterer mikro- und makrokosmischer Aspekte. Durch Lukrez war Epikur im Römischen Reich, speziell sein Naturverständnis, seine Physik, weit verbreitet.

Doch Epikur war zugleich Ethiker. Dafür ist er berühmt geworden und genießt bis heute vor allem unter Humanisten und Atheisten hohes Ansehen. Als Ethiker formulierte er, dass der Mensch für sein Handeln selbst voll verantwortlich sei. Er kann sein eigenes Leben glücklich gestalten, wenn er den Reichtum der Freuden genießt, aber dabei Maß hält und seine Bedürfnisse unter Kontrolle hält. Tue heute nie etwas, was du morgen bereust. Eine tolle Faustregel. Damit entwarf er das Bild eines selbstständigen Menschen mit eigenständigem Willen.

Mit dieser Lebenstheorie geriet Epikur zwangsläufig in Widerspruch zu dem von Demokrit übernommenen physikalischen Determinismus. Denn wie soll der Mensch mit einem eigenen Willen verantwortlich handeln, wenn alles von der Natur absolut vorbestimmt ist? Eine menschliche Eigenverantwortung für sein Handeln und Leben ist nur möglich, wenn der Mensch einen eigenen Willen hat, mit dem er selbst frei entscheiden kann, was richtig oder falsch ist.

Von seinem ethischen Ansatz her schloss Epikur deshalb zurück auf Demokrit mit der Feststellung, dass dessen deterministische Theorie generell nicht stimmen könne. In der menschlichen Existenz vollzöge sich etwas, was den statischen Natur-Determinismus zumindest begrenzt aufhebt, ja, aufheben muss. Die Freiheit zur ethischen Entscheidung muss die Unfreiheit der Naturprozesse durchbrechen! Nur so gibt es menschliche Verantwortung.

Epikur änderte von daher das demokritsche Natursystem ab. Er öffnete dessen starres Kausalitätsprinzip, indem er in die starre statische Fallbewegung eine physikalische Abweichung, eine griechisch: parenklisis, einbaute, eine Falldeklination (Darüber Lukrez, op.cit. Buch II, Z. 216 – 293). Danach bewegen sich die Atome nicht zwangsläufig in starren 90-Grad-Senkrechten, sondern unter Umständen in Abweichungen davon. Diese Abweichungen erzeugen gegeneinander Kreuzungen und Kollisionen und führen so zum Zusammenprall der verschiedenen Atomströme. Aus ihnen heraus resultieren abweichend von der Zwangsnotwenigkeit völlig zufällige Konstellationen und daraus neue, unvorhersehbare Zustände.

Fazit:
So entstehen mitten in der Notwendigkeit starrer Abläufe zufällige Ereignisse. Diese stammen nicht ursächlich aus den determinierten physikalischen Zwangslinien, sondern entstehen als freie Impulse, sind damit nicht deterministisch angelegt. Epikur nennt einen solchen freien Impuls Zufall. Diese Zufälle schaffen in aller Notwendigkeit Freisetzungen aus der unabdingbaren Kausalität und damit offene Bewegungsabläufe.

Den offenen Zufallsspielraum in der Physik definiert Epikur als Freiraum des menschlichen Willens. Der freie Wille des Menschen ist somit ein spezieller, freier, physikalischer Funktionsablauf, der die determinierte Kausalität in Abweichungen durchbricht.

1.3. Schlussfolgerungen

Es ergeben sich aus diesem geistigen Erkenntnisdisput Epikurs mit Demokrit für unser Problem des freien Willens des Menschen drei elementare Basis-Sätze (1 – 3):

Basis-Satz 1:
Demokrit und Epikur sehen eine Erklärung der Natur, griechisch: physis > Physik, inklusive auch aller geistigen Phänomene ausschließlich als materielle Konditionierung innerhalb einer säkularen Naturlehre Deshalb sind alle Phänomene, speziell auch die Erscheinungen des Geistes und aller seiner Problemfragen ausschließlich in der Physik darzustellen und dort zu lösen. Facta sunt facta.

Ganz konsequent: Es gibt keine sonstigen Erklärungsgrundlagen außerhalb der rationalen Naturlehre. Es gelten keine religiös-transzendenten oder philosophisch-metaphysischen Spekulationen, kein übernatürliches, esoterisches oder mysteriöses Geheimwissen. Die sind Problemwahrnehmungen des Geistes und als solche zurück zu führen auf rationale materielle Erklärungen.

So schreibt Lukrez seine Darstellung der säkularen Weltsicht Epikurs mit der aufklärenden Absicht, die Menschen von überkommenen falschen religiösen Vorstellungen zu befreien und ihnen ein bewusst atheistisches Selbstverständnis zu vermitteln, ein reales Ich-Verständnis ohne jede transzendente Anbindung.

Basis-Satz 2:
In Epikurs Widerspruch gegen Demokrit ist schon damals der erkenntnistheoretische Grundsatz angelegt, dass eine generelle Theorie keinen Bestand haben kann, wenn sie beobachtete komplexe Vorgänge nicht logisch zu entschlüsseln vermag und folglich wahrgenommene geistige Phänomene rational nicht ausreichend erklären kann. Eine allgemeingültige Wirklichkeitserklärung muss also von den Phänomen zur Theorie führen und nicht von der Theorie apodiktisch gegen die Phänomene. Facta sunt facta. Was ist, ist.

Von daher sind nicht etwa die Wahrnehmungsphänomene zu minimieren oder gar zu ignorieren, sondern eine Theorie, die sie nicht erklärt, muss hinterfragt, geöffnet oder gar aufgehoben werden. Speziell um geistige Phänomene generell sachgerecht erfassen zu können, gilt eine Theorie nur dann und so lange, wie sie nicht durch offen bleibende Fragen relativiert ist oder durch neue Erkenntnisse falsifiziert wird.

Das Wahrnehmungsphänomen der menschlichen Verantwortung und damit des menschlichen freien Willens stellt deshalb den absoluten physikalischen Determinismus so lange in Frage, bis er den Eigenwert geistiger Phänomene ausreichend und schlüssig erklären kann. Eine Theorie, die nur kategorisch ablehnt und damit ausschließt, kann keine Allgemeingültigkeit beanspruchen, selbst wenn ein großer Name wie Demokrit dahinter steht.

Basis-Satz 3:
Mit Epikur – und damit gegen Demokrit – rückt erkenntnistheoretisch so der freie Wille des Menschen in den Mittelpunkt der generellen Seinsdefinition. Vom menschlichen freien Willen her stellt sich der absolute Determinismus der Natur als Gesamtkonzept der Wirklichkeit in Frage, nicht aus irgendeinem religiös-spekulativen Postulat, sondern aus der Komplexität der realen Wirklichkeitsentwicklung der Natur. Der freie Wille des Menschen ist dabei in doppelter Hinsicht zumindest ein kritisches Spezifikum für die säkulare Evolution:

Zum einen findet Epikurs Zufall in der Unschärfetheorie der Quantenphysik ein sensationelles Äquivalent. Natürlich nicht in der methodischen Ableitung, aber in der exakten Wahrnehmung. Genau an dieser Stelle liegt die Verankerung der alten Frage nach dem freien Willen des Menschen  in der modernen mikrokosmischen Physik und damit in der Biogenetik und darüber hinaus in der Gehirnforschung.

Zum zweiten reicht die Frage nach dem freien Willen des Menschen noch viel weiter. Mit dem freien Willen des Menschen geht es letztlich um die Frage nach Ortung und Funktionsbestimmung der Welt des Geistes und der Geist-Kultur innerhalb der kosmischen Evolution und damit um die generelle Deutung einer makrokosmischen Erscheinung, die bisher einzig im freien Denken des Menschen erkennbar und verifizierbar ist. Aber sie ist.

Allein der Verdacht, es könnte aus einem vorschnellen Theorieprinzip die Wirklichkeit der Natur, speziell die Stellung des Menschen mit seinem exklusivem Ich-Bewusstsein in der Evolution verkannt und missdeutet werden, fordert unseren vollen Denkwiderstand gegen eine derartige Theorie heraus.

(2) Erasmus von Rotterdam  versus  Martin Luther

Einstieg:
Auf den christlichen Kreuzzügen zur Rückeroberung des heiligen Landes (von etwa 1100 bis 1300) machten die Europäer im feindlichen Lager des Islam eine sensationelle Entdeckung: Sie wiederentdeckten dort im philosophischen Fundus des Islams die seit Jahrhunderten verschollenen Aristoteles-Schriften und reimportierten sie ins Abendland. Das bedeutete mitten im total religiösen Hochmittelalter den Einbruch der blanken antiken Vernunft in die christliche Glaubenswelt. Eine geistige Revolution.

In den folgenden Kämpfen um die Durchsetzung der aristotelischen Vernunft gegen den religiösen Glauben liegt die Geburtsstunde der säkularen Denkfreiheit unserer modernen Welt heute. Die Averroaner entwickelten damals an der Pariser Universität Sorbonne mit dem Wissen um Aristoteles ihre Lehre von den zwei Wahrheiten. Sie trennten damit die neuen Vernunfterkenntnisse von allen religiösen und theologischen Erkenntnissen welcher Art auch immer: Habt ihr doch eure Erkenntnisse. Wir haben unsere. Das glich einem genialen geistigen Handstreich, denn mit dieser Trennung wurden Religion und Theologie aus den Realwissenschaften ausgeschieden und der Weg frei für ein eigenständiges, weltliches Vernunftdenken ohne Gott. Der Einstieg in das reine naturwissenschaftliche Denken.

Eine Spätfolge dieser dramatischen geistigen Auseinandersetzungen (der geistige Kopf der Averroaner, Siegfried von Braband, wurde von der herrschenden katholischen Kirche brutal zu Tode gejagt) war der harte Streit zwischen dem jungen Martin Luther und dem ehrwürdigen Humanisten Erasmus von Rotterdam um unser Thema: Der freie oder unfreie Wille des Menschen.

2.1 Martin Luther (1483 bis 1546)

Martin Luther aus Eisleben

Gerade der junge Martin Luther war ein erzkonservativer Theologe, ein religiöser Fundamentalist . Im September 1517, kurz vor seinem spektakulären 95-Thesen-Anschlag am 31. Oktober 1517 an der Wittenberger Schlosskirche, hatte Luther in ähnlicher Weise 97 RADIKALE THESEN GEGEN DIE ARISTOTELISCHE VERNUNFT veröffentlicht. In ihnen verdammt er kompromislos die Vernunftphilosophie. Er spricht dem Menschen jedes eigenständige Denken und Wollen ab.

Luthers radikale theologische Position gegen die menschliche Vernunft lässt sich zusammenfassen in seiner Formel: Solus Deus – einzig! Gott ist allmächtig. Gott ist allwissend. Gott ist allgegenwärtig. Ganz allein Gott bestimmt den Ablauf der Welt, der Geschichte, das menschliche Leben. Nur Gott handelt positiv, schafft das Gute, garantiert das Heil des Menschen. Solus Deus!

Dagegen ist der Mensch ein Gewurm. Er ist durch und durch Sünder, durch die Erbsünde in seiner organischen Substanz zerstört. Könnte dieser armselige Mensch auch nur mit einem einzigen Prozent eigenen Wollen gegen Gott agieren, dann würde er ja Gottes Heilswillen ausbremsen können. Er hätte mit seinem freien Willen eine Sperrminorität, könnte Gott damit lahmlegen, verhindern, ja, ins Gegenteil verkehren.

Von daher erklärt Luther apodiktisch, der Mensch habe keinen freien Willen. Weil Gott absolut ist, darf der Mensch nicht eigenständig sein, darf der Mensch keinen freien Willen haben. Luther vertritt einen absoluten Gott-Determinismus. Das theologische Beispiel dafür ist so berühmt wie brisant:

Giotto, Judas Eskariot verrät Jesus

Gott hatte in seinem Heilsplan für die sündigen Menschen beschlossen, dass Jesus als Sohn Gottes  am Kreuz sterben müsse, um die Sünden der Menschen zu sühnen. Absoluter Wille Gottes. Deshalb musste Jesus in der Nacht vor seiner Gott gewollten Hinrichtung verraten und gefangen genommen werden, damit sich Gottes Heilsplan erfüllen konnte. Für diesen Verrat hatte Gott den Jünger Judas Iskariot ausgesucht. Er musste Jesus verraten und ausliefern.

Hätte Judas Iskariot gegen Gottes Plan Nein sagen können? Hätte er sich Gott und dessen Heilsplan widersetzen können, um diese hinterhältige Tat nicht durchzuführen? Hatte er den freien Willen zum Widerspruch gegen Gott?

Luther antwortet darauf völlig eindeutig: Nein, das konnte er nicht. Der „Verräter Judas“ unterstand dem absoluten Willenszwang Gottes. Gottes Heilsplan musste erfüllt werden, egal was Iskariot wollte. In seiner berühmten Schrift DE SERVO ARBITRIO -ÜBER DEN UNFREIEN WILLEN stellt Luther apodiktisch fest: Gott lässt sich nicht ins Handwerk pfuschen. Der Mensch, egal wer es ist, ist nur Werkzeug Gottes. Von daher ist die menschliche Vernunft nichts anderes als die Unfreiheit des Menschen, Zeichen von Ohnmacht und Wirkungslosigkeit, von unfreiem Willenvollzug.

Wieso aber wird Judas Iskariot dann bestraft, wenn er überhaupt keinen eigenen freien Willen hat? Wie kann er ohne freien Willen verantwortlich sein für sein Handeln? Warum sind die Menschen überhaupt Schuld, wenn doch in Gottes Vorhersehung alles vorherbestimmt ist? Ist nicht Gott selbst schuldig, wenn er das Böse in der Welt zulässt, ja gar vorplant? Warum passiert das alles, wenn Gott doch allwissend und allmächtig ist und vom Wesen her Liebe und Vollkommenheit?

Fazit:
Die Theologen nennen diesen Denkkonflikt das Theodizee-Problem. Alle Theologen, ja, eigentlich jeder gläubige Mensch hat sich mit der Frage der Theodizee herumzuschlagen. Luther gibt darauf keine in sich logische Antwort. Beide Sätze stehen zwar auch für ihn im logischen Widerspruch gegeneinander, der eine Satz >Gott ist allwissend und allmächtig und entscheidet allein< gegen den anderen Satz >Der Mensch ist für sein Handeln voll verantwortlich<. In seiner Schrift DE SERVO ARBITRIO – ÜBER DEN UNFREIEN WILLEN flüchtet sich Luther in eine antinomistische Behauptung: Beide Sätze sind in sich wahr und haben je volle eigene Gültigkeit. Aber erst zusammen bilden sie die ganze Wahrheit.

Eine solche religiöse Antinomie bleibt der weltlichen Vernunft verschlossen. Für die rationale Erkenntnis ist sie das Ende der logischen Vernunft. Sie ist nur im religiösen Gehorsam zu glauben. Die Averroaner würden dazu sagen: Das ist eben eure Wahrheit: Der Glaube. Unsere Wahrheit ist eine andere: Die Vernunft. Basta. Doch die Problemstellung ist denn doch komplizierter.

2.2. Erasmus von Rotterdam (1466 bis 1536)

Erasmus von Rotterdam

Gegen diese radikal-fundamentalistische Theologie Luthers konterte Erasmus von Rotterdam 1524 mit seiner Schrift DE LIBERO ARBITRIO – ÜBER DEN FREIEN WILLEN. Luther antwortete darauf 1525 wütend mit besagter Schrift DE SERVO ARBITRIO – ÜBER DEN UNFREEIEN WILLEN. Darauf antwortete Erasmus 1527 noch einmal mit HYPERASPISTES. Dieser Disput hatte ein ungeheures Echo in der damaligen Öffentlichkeit. Es machte beide Kontrahenten bekannt, Luther als den Glaubensreformator, Erasmus als den Vernunftreformer einer säkularen Neuzeit. Er galt als einer der größten Gelehrten seiner Zeit und wurde verehrt als „Fürst der Humanisten“.

In DE LIBERO ARBITRIO definiert Erasmus den freien Willen des Menschen. Zwar geht auch er in seinem Denken noch von theologischen Voraussetzungen aus, er sprengt aber den alten dogmatischen Rahmen, indem er die Freiheit des menschlichen Willens gegenüber Gott postuliert: Der Mensch ist in seinem Willen frei. Erasmus eröffnet den Disput mit Luther mit der Feststellung: Was daher meine Überzeugung anlangt, so bekenne ich, dass über den freien Willen von den Alten viel Verschiedenes überliefert wird, worüber ich noch keine feste Meinung habe, außer dass ich glaube, es gibt irgendeine Kraft des freien Willens (nisi quod arbitror esse aliquam liberi arbitrii vim (DE LIBERO ARBITRIO I a 5).

Erasmus von Rotterdam wagt von daher den Kopf zu heben. Eigentlich war er selbst gar kein Draufgänger, war sogar eher ein serviler Typ. Den Kopf zu heben bedeutete für ihn, seinen menschlichen Verstand zu entdecken und anzuerkennen. Neuer Antrieb ist ihm seine positiv gewertete menschliche Rationalität. Mit ihr setzt er sich selbst frei aus den bisherigen Glaubenszwängen. Er nimmt jeden Menschen heraus aus göttlicher Bevormundung und erklärt ihn zu einem Wesen mit eigenständigem Selbstbewusstsein und unmittelbarer Verantwortung.

Mit der menschlichen Rationalität entdeckt und behauptet Erasmus den freien Willen des Menschen. Beides gehört zusammen. Als eigenständiges Vernunftwesen hat der Mensch zugleich einen eigenen, freien Willen. Er hat damit die Fähigkeit zu eigenen Entscheidungen und damit zur Umsetzung des eigenen Wollens. Beides zusammen schafft vor allem Raum für neue Ideen und Vorstellungen, für planbare Entwicklungen und mitbestimmter eigener Zukunft. Der Mensch kann aus sich selbst heraus mittels seiner Vernunft gerade auch das Gute denken und tun, letztlich auch ohne Gott.

De libero arbitrio aus dem Jahr 1524

Bei genauer Betrachtung möchte man hier noch erst von einem befreiten Wollen sprechen. Der  Mensch kann sich von alten Zwängen loslösen, freistellen. Dass solche Befreiung Freiheit ist, verdichtet sich erst mit seinem zunehmend befreiten rationalen Bewusstsein. Da Erasmus selbst programmatisch auf freien Willen zielt, kämpft er sich durch die mühsame, endlose Dogmatik Luthers in eine zunehmende Emanzipation des freien Denkens voran.

Vernunft und freier Wille werden ihm so zur Freiheit seiner menschlichen Natur, ja, im Letzten zur Freiheit des natürlichen Menschseins überhaupt. Freiheit liegt im Wesen der Natur, und damit nicht jenseits im Göttlichen, sondern diesseits im Menschlichen. Für Erasmus ist der Mensch so aus seiner Natur heraus ein Wesen der Vernunft, ein Mensch des befreiten Wollens und damit des freien Willens, eine Persönlichkeit eigenständiger Entscheidungen und damit selbst verantworteter Existenz.

Natürlich hat die katholische Kirche diesen Erasmus von Rotterdam, ihren einstigen gläubigen Mönch, bekämpft und verfolgt. Sie hat ihn aus der Kirche ausgeschlossen und damit der Hölle übergeben. Luther selbst hat den Erasmus wie die Pest verteufelt: Wer den Erasmus zerdrückt, der würget eine Wanze, und diese stinkt noch tot mehr als lebendig.

Fazit:
Hinter diesem geistigen Durchbruch des Erasmus von Rotterdam stand das neue Menschenbild der Renaissance, die Wiedergeburt des antiken Vernunftdenkens. Der klassische Geist der Antike war dreifach angelegt: (1) In vernunftbedingten materiellen Erkenntnissen und Erklärungen der ionischen Naturphilosophie. (2) In der politischen Mitverantwortung des Einzelnen in der völlig neuartigen attischen Demokratie. (3) In der persönlichen Denkfreiheit des Individuums in der klassischen Philosophie des alten Athens. Insgesamt in einer offenen, freien Welt des menschlichen Geistes.

Sandro Botticelli, Primavera aus der Zeit um 1482

 Mit dem Rückgriff auf die Antike entstand in der Renaissance ein völlig neues Menschenbild, in dem der natürliche Mensch immer mehr in den Mittelpunkt rückte. Als erste visualisierten die großen Maler Sandro Botticelli, Michelangelo, Raffael und auch alle anderen diese neue Sicht vom Menschen. Sie führten ihren Zeitgenossen mit ihren Bildern ganz konkret vor, wie ein starker, natürlicher Mensch in voller Körperkraft und blühender Schönheit aussieht. Gerade da, wo ihre Bilder keine religiösen Themen mehr hatten, schäumten sie über vor Lebensvitalität und Lebensfreude. Der Zeitgeist nahm diese Befreiung begeistert auf.

Schließlich entdeckte vor allem Leonardo da Vinci überhaupt die Natur in sich als das reale, diesseitige Seinsphänomen. Er plante eine große ENZYKLOPÄDIE DER NATUR und des Menschen in und als Natur. Die wenigen Blätter, die wir davon als Nachlass besitzen, zeigen, dass Leonardo die Welt nicht nur mit sachgerechten Definitionen beschreiben wollte. Er wolle sie auch in gezeichneten Bildern exakt dokumentieren. Ein erster bedeutender Erkenntnis- und Aufklärungsschritt in die säkulare Neuzeit.

Der Mensch durchbricht das Firmament

Allerdings ist die Renaissance selbst noch nicht als eine derart freie Geisteswelt ausgereift. Sie ist eher eine Inkubationsepoche auf eine Welt hin, in der der Mensch als Ich ganz im Mittelpunkt stehen wird. Doch schon in der Renaissance kommt überall das neue Vernunftdenken in einem unglaublichen  Forschungsdrang voll zum Durchbruch, und schafft epochale säkulare Erkenntnisse: Den Entwurf einer säkularen Humanität (Francesco Petrarca); den Beweis der Kugelform der Erde und die Entdeckung Amerikas (Christopher Columbus); den Nachweis des heliozentrischen Planetensystems (Nikolaus Kopernikus), den Beweis für einen offenen und damit unbegrenzten Himmel (Galileo Galilei) – nur um mit ein paar konkreten Beispielen anzudeuten, welche Leistungen der Mensch mit seinem Verstand und damit mit seinem Gehirn gerade in dieser kurzen Zeit damals neu erbracht hat. Hinter jeder Problem- und Fragestellung, hinter jeder Erkenntnis oder Entdeckung stand ein einzelner, denkender Kopf, ein Ich, das mit seinem Verstand Neues, zumindest Eigenes produziert und dafür gekämpft hat.

2.3. Schlussfolgerungen

Aus diesem berühmten Konflikt Erasmus versus Luther leiten wir für unser Thema Willensfreiheit des Menschen drei weitere elementare Grundaussagen (4 bis 6) ab.

Basis-Satz 4:
Erst mit Erasmus von Rotterdam beginnt der Aufbruch der autonomen Persönlichkeit der modernen Welt. Luther hat mit seiner Reformation den Menschen in der säkularen Welt also nicht zu sich selbst befreit. Ganz im Gegenteil. Er hat zwar das transzendente Verhältnis des Menschen mit einem absoluten Glauben an Gott (sola fide) saniert. Die vernunftbedingte Eigenständigkeit des Menschen in einem immanenten Dasein aber hat er gehasst, bekämpft und verdammt. Er ist von daher der absolute Verweigerer der modernen, Vernunft bedingten Welt und einer freiheitlichen Entwicklung des säkularen Geistes und Individuums. Er war ein religiöser Fundamentalist gegen die Eigenständigkeit unserer säkularen Welt und des säkularen Menschen. Deshalb ist sein Christentum nicht die Grundlage unserer modernen Welt heute. Er selbst war ihr schärfster Gegner.

Dagegen ist Erasmus selbst eine der Säulen der Renaissance und damit eines weltlichen Humanismus im umfassenden Sinne des antiken Begriffs humanitas. Seine eigene Emanzipation ist Ausgangspunkt einer sich in der Welt selbst bestimmenden Existenz und damit Ziel aller weltlichen Aufklärung; Leitbild allen ethischen Handelns ohne Gott und der Selbstverantwortung des Menschen für sein Leben. Erst mit ihm beginnt im christlichen Abendland überhaupt ernsthaft die Frage nach dem freien Willen und damit nach der elementaren Veränderung des Menschenbildes.

Dieses so erwachende Freiheits- und Autonomiebewusstsein des Individuums gipfelt am Anfang des 19. Jahrhunderts in der ICH-Philosophie Johann G. Fichtes. Die Anekdote erzählt, dass Fichte sein einziges Glas Sekt in seinem Leben getrunken hat, als sein kleiner Sohn zum allerersten Mal Ich gesagt hat: Das Kleinkind spricht von sich selbst zunächst nur in dritten Person: Kolja möchte das haben. Warum? Weil Kolja das möchte. Es ist ein ganz besonderer Augenblick, wenn das kleine Kind statt Kolja zum ersten Mal und dann für immer ICH sagt: Weil ICH das möchte – und sich damit selbst als ICH erkennt und identifiziert. Fichte hat diesen Augenblick als die Geburt des eigenständigen Individuums gefeiert. Als Philosoph des Idealismus war Fichte zutiefst der (philosophischen) Transzendenz verbunden. Trotzdem präferiert er das wollende Ich. Dazu Hammersätze: Das Ich, das alles möglich macht. Der Wille ist die einzige Realität. Alles, was ist, ist Ich. Der wahrhaft rechtschaffende Mann will, dass das Gute geschehe, durch wen es geschehe, das ist ihm gleichgültig, wenn es nur geschehe. Handeln, handeln …!

Johann Gottlieb Fichte, Rektor der Humboldt Universität Berlin

Basis-Satz 5:
Mit Fichte ist das abendländische Ich-Bewusstsein auf einem ersten Höhepunkt des eigenständigen Individuums angekommen. Führt man diese Linie der individuellen menschlichen Ideen- und Geistesgeschichte in die Neuzeit bis heute fort, dann ist die Zahl der menschlichen Denkleistungen und der daraus resultierenden Handlungen im Großen und Kleinen und ganz Kleinen Legion: Das zeigt eine endlose, menschlich-kreative Geistpotenz in allen Bereichen. Das je einzelne individuelle Bewusstsein hat sich zu einem kollektiven Bewusstsein gesteigert, in eine Welt des Geistes aus einer langen Geistentwicklung mit einer Zukunft auf breiteste Kulturbasis.

Fichtes ICH-Philosophie markiert dabei einen zunehmenden Individualisierungsprozess unserer modernen Gesellschaft. Besonders vor dem Hintergrund der totalen Unfreiheit des menschlichen Geistes in der christlichen Religion kommt der säkularen Individualisierung eine absolute Einzigartigkeit zu. Was mit dem Ich des Erasmus von Rotterdam begonnen hat, findet über Fichte Erfüllung im eigenständigen, sich selbst bestimmenden Denken und Handeln der Menschen heute.

Diese Individualisierung hat einen fast unbegrenzten Pluralisierungs- und Globalisierungsprozess der Gemeinschaft als einer säkularen Gemeinschaft der Individuen zur Folge. Diese geradezu explosionsartige Entwicklung findet in unseren Tagen ihr faszinierendes Modell in der

Community Facebook. Facebook erscheint als ein offenes Meer endloser menschlicher ICH-Kommunikation in einer bisher unvorstellbar unbegrenzten Vielfalt. In kaum zehn Jahren hat sich fast eine Milliarde völlig unterschiedlicher Menschen weltweit über alle Grenzen hinweg miteinander verbunden. Natürlich eine Massenbewegung, aber gerade deshalb: Der einzelne Mensch kann sich darin frei bewegen. Er kann sich beliebig entscheiden, wie er sich verhalten will, ob er sich persönlich outet, ob und mit wem er Freund sein will oder ob er sich lieber zurücknimmt. Wie auch immer. Jeder ist dort mit seinen Daten und seinem Wissen, seinen Wünschen und Gefühlen, Plänen und Projekten ein freies, gleichgestelltes Ich. Er kann frei seine Meinung sagen, positiv zustimmen oder auch kritisieren ohne repressive Fremdbestimmung drohender Institutionen welcher Art auch immer. Eine sensationelle geistig-demokratische Humanisierung auf der Basis sich in offener Denkfähigkeit selbst verantwortender Individuen.

Basis-Satz 6:
Vom Prinzip geistigen Freiheitsbewusstseins ist auch schon immer die atheistische Bewegung geprägt gewesen. In der Neuzeit haben sich die Menschen in ihrem kritischen Denken ohne Gott sogar stolz Freethinkers – Freidenker genannt, sich als freigeistige Bewegung ohne Gott und ohne autoritäre Bevormundung verstanden. Noch heute ist eine dieser renommierten Vereinigungen in Deutschland der Bund der Geistesfreiheit. Der Namen ist Programm. Gerade auch im Atheismus ist die geistige Freiheit des Individuums ein humanes Wertkennzeichen, wenn er formuliert: Durch die Loslösung von Gott als der höchsten religiösen Autorität setzt sich der Mensch frei von der größtmöglichen Fremdbestimmung. Indem er sich herausnimmt aus der göttlichen Bevormundung, entwickelt er sich zu einem sich selbst bestimmenden und verantwortenden Individuum. Durch seine kritische Vernunft wird er ein autonomer Mensch.

Dagegen erscheint die These, dass die Geisteswelt des Menschen individuell und kollektiv in absolutem Natur-Determinismus abliefe, kulturphilosophisch eher witzig: Ist doch der Mensch mit seiner Vernunft noch kaum einem totalen religiösen Gott-Determinismus entronnen und damit befreit von Menschen unwürdigen Zwängen. Da unterwirft sich dieser moderne Mensch mit seinem freien menschlichen Selbstverständnis und allen offenen geistigen Möglichkeiten fröhlich lächelnd einem totalen Natur-Determinismus und schwört alle menschlich-autonomen Selbstwerte ab. Mich laust der Affe.

Richtig ist: Die Welt des Geistes und in ihr der freie Wille des Individuums sind in unseren bisherigen Darlegungen bislang nur ein Wahrnehmungsphänomen. In den abendländischen Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften werden sie als die besondere Qualität des Menschseins bewertet und dargestellt. Die Geistes-, Human- und Sozialwissenschaften und gerade auch die atheistische Bewegung in ihrem individuellen Vernunft- und Freiheitsbewusstsein bewahren hier ein menschliches Vermächtnis, das es so lange zu verteidigen gilt, bis die Naturwissenschaften letztgültig in der Lage sind, auch geistige Werte wie Erkenntnis, Wissen, Bewusstsein, und damit Geist und Kultur umfassend zu erklären. Bis dahin kann und muss uneingeschränkt die Wahrnehmung gelten, dass es eine eigenständige Geisteswelt gibt, und in ihr einen freien Willen des Menschen gemäß dem schönen Liedtitel DIE GEDANKEN SIND FREI.

Zurzeit besteht in dieser Hinsicht keinerlei Notwendigkeit, die wahrgenommenen Exklusivwerte der Welt des Geistes und des freien Willen im Menschen aufzuheben. Es besteht dazu kein naturwissenschaftlicher Erkenntniszwang, weil es in der materiellen Erforschung gerade auch des Säkular-Spirituellen keinen evidenten Beweis gibt, der den totalen Determinismus des Geistes festschreibt.

Deshalb wird die Behauptung, der Mensch sei so determiniert, dass er in seinem Bewusstsein nicht frei denken und entscheiden könne, von uns als eine eher vage naturtheoretische Spekulation gewertet in analogen Schlüssen zu generell geltenden Naturgesetzen. Sie ist als Hypothese schon interessant, aber zurzeit durch nichts als letztgültig erwiesen. Es gelten auch hier wie bei allen Hypothesen strenge Prüfregeln, so wie wir sie oben im Sinne von Epikur in unserem Basis-Satz 2 formuliert haben:

Allerdings ist auch unsere Wahrnehmung eines individuellen und kollektiven freien Geist-Phänomens eben nur von vorläufiger Gültigkeit, selbst wenn es sich aus Jahrhunderte langer Menschheitsgeschichte ablesen lässt. Die Begründung und Erklärung dieses allzumal sehr komplexen Phänomens ist natürlich eine ganz andere Sache. Dabei kann kaum ein Zweifel bestehen, dass derartige Begründung und Erklärungen oder gar ein wissenschaftlicher Magnus Konsensus ausschließlich in einem aktuellen Physik und Chemie gestützten Welt- und Menschenbild zu finden sind, also mittels der modernen Naturwissenschaften.

Deshalb spitzt sich unsere Streitfrage zu auf das kritische Abwägen naturwissenschaftlicher Argumente und Beweise, wobei auch Naturwissenschaft keineswegs wie selbstverständlich einheitlich Naturwissenschaft ist.

(3) Quantenmechanik  versus  mechanistische Physik

Einstieg.
Das 19. Jahrhundert war  d a s  naturwissenschaftliche Jahrhundert. In ihm vollzog sich der endgültige Durchbruch der Vernunft und damit der Naturwissenschaften. Es entstand eine wachsende Fähigkeit zum objektiven Denken und Erkennen mit strengen Analysen von Ursache und Wirkung. So gelangen großartige Wissenschaftserkenntnisse und eine völlig neue Realitätstheorie. In ihr entwickelte sich eine physikalische Wirklichkeitsvorstellung, in der die Welt in direkter mechanischer Kausalität ablief und damit errechenbar und in der neuen Technik machbar wurde. Alle Forschung und Erkenntnis wurde diesem Wirklichkeitsmodell untergeordnet.

Das 20. Jahrhundert brach dagegen mit völlig neuartigen Erkenntnissen herein und bewirkte den Einsturz dieses starren mechanistisch-physikalischen Weltbildes des 19. Jahrhunderts. Quantenphysik und Relativitätstheorie schufen völlig neue Denkvoraussetzungen, aus denen unser heutiges modernes Weltbewusstsein entstanden ist. Es öffnet im Kleinen wie im Großen völlig neue Räume der Natur und des Seins. Gerade auch das Dasein des Menschen kann so naturwissenschaftlich viel differenzierter und komplexer in einem offenen Menschenbild erklärt und verstanden werden.

3.1. Mechanische Physik und Monismus im 19 Jahrhundert

Pierre de Laplace, Erfinder des deterministischen Dämon

Von 1799 bis 1823 schrieb der hoch angesehene Pierre de Laplace, Professor für Mathematik und Physik, ein Mann mit einer dramatisch-aktiven Lebensgeschichte (1749 bis 1823) unter Ludwig XV, Robespierre, Kaiser Napoleon und Ludwig XVIII sein groß angelegtes fünfbändiges Werk TRAITÈ DE MÉCANIQUE CÉLESTE – ABHANDLUNG ÜBER DIE HIMMELSMECHANIK. In ihm entwarf er die Strukturen der modernen mechanischen Astrophysik: Bewegung der Körper unter dem Einfluss äußerer Kräfte und Wechselbeziehungen.

In ein einfaches Bild übertragen: Die Welt läuft ab wie ein großes Uhrwerk mit vielen Rädchen. Jedes Rädchen ist mit einem anderen verzahnt, greift in ein anderes Rädchen ein und bewegt es. Ein riesiges präzises Zusammenspiel aller Kräfte. Kein Rädchen darf fehlen. Kein Rädchen darf haken oder gar ausfallen. Nichts bestimmt sich selbst, alles wird bestimmt durch die große in sich ablaufende Bewegung als die Energie in einem mechanistischen System.

1814 schrieb Laplace seinen ESSAI PHILOSOPHIQUE SUR PROBABILITÉS – PHILOSOPHISCHER ESSAY ÜBER DIE WAHRSCHEINLICHKEIT. In ihm entwirft Laplace einen „säkularen Weltgeist“, der die Gegenwart in allen Details rational erfasst. Er verfügt gleichzeitig über ein exaktes Wissen über alles Geschehen in Vergangenheit und Zukunft. Dieser Laplacesche Dämon versinnbildlicht einen vollkommenen Determinismus, der jeden freien Willen radikal ausschließt.

Infolge davon entstand der wissenschaftstheoretische Ansatz einer total deterministischen Kausalität. Alles wurde berechenbar, wurde errechenbar. Alles wurde logisch erklärbar. Aus diesem Wissenschaftsansatz heraus entstanden fraglos großartige naturwissenschaftliche Erkenntnisse und Entdeckungen wie Hochdampfkraft, Elektrizität, Elektromagnetismus. Röntgenstrahlen, Radiowellen. Zugleich entstanden große Theorien wie Charles Darwins Evolutionstheorie, Karl Marx Kapitalismuskritik, Siegmund Freuds Psychoanalyse. Schließlich eine sich explosionsartig entwickelnde Technisierung (Eisenbahn, Schreibtelegraph und Telefon, Glühbirnen und Radio, Ottomotor und Auto, Impfstoffe), in der die theoretischen Erkenntnisse in Machbarkeit umgesetzt wurden und die Welt von Grund auf verändert.

Das 19. Jahrhundert begeisterte sich verständlicherweise nahezu kritiklos an dieser Theorie der mechanistischen Physik. Lieferte sie doch im frühen Naturwissenschaftsjahrhundert ausreichend naturwissenschaftliche Parameter zur Forschung und zur Anwendung der Forschung und damit auf Zukunft hin einen geradezu zwanghaften Fortschrittsglauben.

Diese Begeisterung schlug sich nieder in der Philosophie des Monismus, der Lehre von der absoluten physikalischen Kausalität als einheitliches Grundprinzip des generellen Seins. Neben Physik und Chemie wurden auch  Biologie und Anthropologie, alle sozialen und geisteswissenschaftlichen Bereiche in diese Theorie mit einbezogen. Dies bewirkte eine säkulare Wissenschaftsbegeisterung nicht nur bei vielen Naturwissenschaftlern, sondern auch in der breiten Bildungsgesellschaft.

Ernst Haekel, Spitzenvertreter des Monismus

Der Spitzenvertreter des Monismus war Ernst Haeckel mit seinem außergewöhnlichen Bucherfolg  DIE WELTRÄTSEL, 1899. Das monistisches Kausalitätsprinzip wurde von ihm in alle Bereiche umgesetzt, die Welt in allem auf der Basis eines mechanistischen Determinismus total festgeschrieben. Haeckel verstand sein monistisches Buch als Gruß an das 20. Jahrhundert in dem Bewusstsein, er hätte damit für die Nachwelt vom Erkenntnisprinzip her Letztgültiges formuliert.

Fazit:
Spätestens hier taucht der Verdacht auf, dass ein starrer weltlicher Natur-Determinismus große Ähnlichkeit hat mit dem starren religiösen Gott-Determinismus. In beidem wird die Wirklichkeit von einer absolut gesetzten Einheitstheorie her rigide festgeschrieben und verengt. Luthers „Gott-Dämon“ und Laplace „Weltdämon“ haben eine horrorgespenstische Ähnlichkeit. Beide setzen gerade auch den Menschen als evolutionäres Wesen in absolute Kausalitätszwänge und damit wissenschaftlich in ein eng eingegrenztes Welt- und Menschenbild.

Gerade auf den denkenden Menschen hin und der ihm eigene Welt des Geistes mit allen ihren Derivaten wie Bewusstsein, Denken, Erkenntnis, Reflektieren, Imaginieren, Vorausschauen und Planen bleibt der geistig-spirituelle Ansatz aufs äußerste verschlossen und setzt den Menschen in seinen freien geistigen Fähigkeiten unerklärt außer Kraft, so dass wie mit dem Gott-Determinismus auch im Natur-Determinismus durch zu enge Parameter die geistigen Phänomene des Menschseins nicht ausreichend erfasst werden können, weder in der persönlichen Bewusstseinsbildung des menschlichen Individuums, noch im kollektiven Bewusstsein der Geistes- und Kulturgeschichte.

Diese Kritik hält die Frage offen, ob und in wieweit mit einem absoluten Natur-Determinismus das mechanistisch-monistische Welt- und vor allem Menschenbild des 19. Jahrhunderts heute wirklich überwunden ist. Vielerorts erscheint es immer noch als Grundlage eines humanen Selbstverständnisses.

3.2. Quantenmechanik und Unschärfetheorie im 20. Jahrhundert

Planck und Einstein, Begründer
des neuen physikalischen Weltbildes

– Am 14. Dezember 1900 veröffentlichte Max Planck in einem Vortrag sein PLANCKSCHES WIRKUNGSQUANTUM. Dieses Datum gilt als der Geburtstag der Quantenphysik. Mit dem Wirkungsquantum löste Planck das Problem der stabilen Größe des Atoms und schuf so neben Gravitationskonstante G und Lichtgeschwindigkeit c die dritte Naturkonstante h der modernen Physik.

 – 1905 veröffentlichte Albert Einstein seine Arbeit zur ELEKTRODYNAMIK BEWEGTER KÖRPER, die als die spezielle Relativitätstheorie gilt. Seine Forschungen veränderten grundlegend die bisherigen Vorstellungen von Zeit und Raum in kosmischen Dimensionen. Sie schufen zugleich ein völlig neues Verständnis der Gravitation als die entscheidende makrokosmische Kraft des Universums von dessen Ursprung bis zu seinem denkbaren Ende.

Beide Forschungsereignisse wurden zum Ausgangspunkt einer völlig neuen Welterkenntnis und bewirkten so den Umsturz der mechanistischen Physik des 19 Jahrhunderts. Mit ihrer Veröffentlichung wurde Haeckels monistischer Bestseller auf der Stelle zum reinen Ladenhüter.

Die Entdeckung der Quantenphysik lässt sich in einem ersten Schritt am besten mit der Feststellung verdeutlichen, dass im Atom selbst Energieprozesse ablaufen, die die Welt bewegen. Diese elementaren Prozesse sind bedingt durch den inneren Aufbau des Atoms. In ihm befindet sich im Zentrum der elektrisch positiv geladene Atomkern. Um den Atomkern herum kreisen auf je eigenen Umlaufbahnen elektrisch negativ geladene Elementarteilchen, die Elektronen.

Ein Photon (grün) löst ein Elektron (rot) aus der äußersten Elektronenschale (Emission). Im Mittelpunkt der Atomkern (gelb).

Das spezifische Atom ist bestimmt durch die Anzahl der positiv geladenen Protonen im Atomkern. Sie definiert das Atom als spezifisches chemisches Element. Außerdem befinden sich im Atomkern eine je spezifische Anzahl von Neutronen, ungeladene Elementarteilchen. In gleicher Anzahl der Protonen umkreisen den Atomkern negativ geladenen Elektronen. Dadurch ist das Atom ursächlich neutral geladen. Gibt ein Atom Elektronen ab oder nimmt sie auf, wird es zum positiv bzw. negativ geladenen Ion, bleibt aber dasselbe chemische Element. Das einfachste Element ist das Wasserstoffatom mit einem Proton und null Neutronen im Atomkern und mit einem umlaufenden Elektron; das Kohlenstoffatom hat 6 Protonen, 6 Neutronen und 6 Elektronen; das Bromatom hat 35 Protonen, 44/46 Neutronen und 35 Elektronen.

Der Zustand in einem Atom kann sich verändern, zum Beispiel durch das Eindringen von Photonen, Lichtpartikel, die das Atom erwärmen. Die Elektronen können diese oder andere Elementarteilchen (Quanten) bei niedrigem Energieniveau aufnehmen (Absorption), bei hohem Energieniveau abgeben (Emission). Aufnahme oder Abgabe der Quanten erfolgt durch Hin- und Herspringen der Elektronen zwischen den Niveauunterschieden auf verschiedenen Umkreisungsbahnen um den Atomkern. Die Elektronen halten durch die Quantensprünge das mikrokosmische System in ständiger Bewegung.

Werner Heisenberg, Entdecker der Unschärfetheorie

Die sensationelle Entdeckung von Werner Heisenberg 1927 lag in der Feststellung, dass diese Quantensprünge in ihrer Ursache nicht genau zu berechen sind. Heisenberg nannte diese Unberechenbarkeit Unschärfe. Sie bedeutet exakt: Ort und Impuls eines Quantensprungs sind nicht gleichzeitig exakt zu bestimmen. Oder anders: Es ist nicht möglich, einen Quantensprung zu präparieren, bei dem Ort und Impuls beliebig genau sind.

Eben genau diese Feststellung war sensationell. Sie besagte, dass im mikrokosmischen System Bewegungen stattfinden, die in ihrem Anlass und ihrem Ort nicht gleichzeitig zu bestimmen sind. Im innersten Atom gilt es damit keine absolute kausale Determination. Das durchbrach die bis dahin fest angenommene absolute Gültigkeit mechanistisch-physikalische Kausalität. Ihre Aufhebung lag und liegt bis heute in der Heisenbergschen Unschärfetheorie: Die deterministische Kausalität des 19. Jahrhunderts ist im mikrokosmischen System prinzipiell außer Kraft gesetzt.

Natürlich fällt einem an dieser Stelle sofort Epikurs parenklisis ein, die Fallabweichung als Aufhebung des absoluten demokritschen Determinismus. Darin lag seine Feststellung, dass eben genau in dieser Unschärfe der Spielraum für den menschlichen freien Willen bestände. In dieser Erkenntnis liegt die entscheidende Voraussetzung der modernen Physik für unsere eigene Antwort auf die Frage nach dem freien Willen des Individuums.

Zunächst aber ist noch festzustellen, dass Albert Einstein von Anfang an prinzipiell starke Zweifel an den mikrokosmischen Testergebnissen der Quantianer hatte. Er unterstellte ihrem Labor nicht wirkliche Tatbestände, sondern ungenaue Messergebnisses. Zugleich stellte er fest, dass in seinen makrokosmischen Forschungen derartige Quantensprünge nicht vorkämen. Verärgert wetterte er ironisch: Gott würfelt nicht!

Dabei markierte Einsteins Unterscheidung zwischen mikro- und makrokosmischer Physik eine äußerst wichtige Erkenntnisdifferenzierung. Sie legte nahe, dass im Mikrokosmischen konstitutive Abläufe vorgegeben sind, die im Makrokosmischen nicht stattfinden und umgekehrt. Das wird durch die Tatsache bestätigt, dass es bis heute trotz der Forschung von Stephen W. Hawking noch keine überzeugende Einheitstheorie gibt, die beide Bereiche schlüssig zusammenführt.

Die Trennung von mikrokosmischer Wissenschaft einerseits und makrokosmischer Wissenschaft andererseits ist Folge unterschiedlicher Naturbereiche. Von daher lassen sich die Erkenntnisse der Atomforschung nicht direkt auf die Erforschung des Weltraums übertragen und die Erkenntnisse der Weltraumforschung nicht direkt auf die Erforschung des Mikrokosmos.

Fazit:
Wir kennzeichnen hier den Umsturz des Weltbildes der Physik des 20. Jahrhunderts gegenüber der mechanistischen Physik des 19. Jahrhunderts in drei wesentlichen Punkten:

– Zum ersten: Materie. Wesentlich für die Erkenntnisse der geistigen Prozesse des Menschen ist die Tatsache, dass sich in den letzten hundert Jahren der Begriff Materie verändert hat. Durch die Quantenphysik, durch die Informationstheorie der Kybernetik und Computerwissenschaften, durch die Codierungsprozesse der Biogenetik und Gehirnfunktionen sind völlig neue Dimensionen der Materie entstanden bis hin zu multifunktionalen Wirkungsprinzipien – insgesamt eine faszinierende Differenzierung der physikalischen und chemischen Prozesse und damit der materiellen Welt. Dieser Differenzierungsprozess von Materie ist heute noch keineswegs abgeschlossen, sondern steht gerade in unserer Zeit im Blick auf die geistigen Prozesse des Menschen noch im vollen Forschungsprozess.

Urknallexplosion

– Zum Zweiten: Energie: Einsteins Formel E=mc² – Energie gleich Masse mal Lichtgeschwindigkeit im Quadrat – bewirkte ein völlig neues Verständnis der gesamtkosmischen Kräfte durch die Feststellung, dass keine Energie verloren geht, sondern sich wandelt in Materie und umgekehrt. Dabei erklärt die Urknalltheorie, dass als Beginn unseres Kosmos eine Gesamtenergie in vier unterschiedliche eigene Energieströme aufgebrochen ist und sich unterschiedlich ausgebreitet hat und immer noch ausbreitet: Im Mikrokosmos herrschen elektromagnetische Kraft, schwache und schwere Kernkraft. In der kosmischen Evolution und damit im Makrokosmos ursächlich Gravitation.

– Zum dritten: Systemfunktionalität. Zwar ist der materielle Prozess bis ins das materiell Kleinste zurückzuführen, zuletzt eben bis auf das voraus errechnete Higgs. Aber nicht ein Elementarteilchen als solches und allein bewirkt etwas, sondern nur als Teil in einem System und damit in einem größeren Verbund. Das Teilchen an sich ist nichts als ein wertfreier physikalisch/chemischer Stoff ohne Gesamt-bestimmung in sich. Erst in einem System bekommt es Funktion. Wirklichkeit bedeutet deshalb prinzipiell materielle Komplexität und mit ihr Veränderung und Zunahme und damit Höherstufung und Steigerung der Qualität und Wertigkeit der Wirklichkeit.

3.3. Schlussfolgerungen

Wir schließen unsere erste Runde als historische Beleg-Sammlung zu unserer These des freien Willens des Menschen ab mit drei weiteren Basissätzen (7 – 9) aus der Entwicklung der modernen Physik.

Im Stirnbereich sitzt das menschliche Denkhirn (dunkelgrün)

Basis-Satz 7:
Für die Erklärung unserer These Der freie Wille ist das spezifische Wesen des denkenden Menschen ist die Unterscheidung zwischen mikro- und makrokosmischer Physik von entscheidender Bedeutung. Eben weil einerseits das sehr komplexe Problem des individuellen Bewusstseins im Menschlichen selbst liegt, und damit im Gehirn als mikrokosmischer Bereich. Andererseits aber weil die Entwicklung einer Welt des Geistes im kollektiven Bewusstsein des Kulturellen liegt und damit in der kosmischen Evolution als makrokosmischer Bereich.

Basis-Satz 8:
Der Aufbau des spezifisch menschlichen Ich-Bewusstseins lässt sich nur aus der mikrokosmischen Physik erklären und damit aus den Funktionen des Gehirns, speziell des Neo-Kortex, dem Denkhirn.

Basis-Satz 9:
Die Evolution der Welt des Geistes lässt sich nur aus der makrokosmischen Physik heraus erklären und damit aus der makrokosmischen Komplexität ableiten und damit aus der kosmischen Evolution.

  1. Neue Schreibweise: Wir sprechen und schreiben grundsätzlich nicht mehr vor Christus  oder  v. Chr. Vor alle Daten vor der Zeitenwende Null setzen und sprechen wir ein Minuszeichen, also im Jahr -600  oder nur  -600.