Buch 06: Wertestruktur und menschliches Handeln

Die Lehre vom Humanum

Diskurs 06.25


Die Hamburger 10 Gebote
Versuche glücklich zu werden

(1) Eine Konfirmandengruppe mit Dr. Paul Schulz an der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg

Frühjahr 1975. Eine Gruppe von etwa 20 Konfirmandinnen und Konfirmanden wollte sich konfirmieren lassen. Es war meine letzte Konfirmation, die ich als Pastor der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg gehalten habe.

Einige Wochen vor der Konfirmation hatte ich an meine Konfirmanden die Frage gestellt: Was ist denn für euch – Glück? Wenn ihr euch alles wünschen könntet, wie würde das wohl sein, wenn ihr sagt: >Ich bin glücklich<.

Über diese Frage waren wir am Anfang alle etwas betroffen denn wir hatten plötzlich den Eindruck, an eine irgendwie verbotene Frage geraten zu sein. Denn darf ein Christ überhaupt glücklich sein? So richtig und voll Glück empfinden und genießen?

Wenigstens haben die Konfirmanden doch langsam angefangen, aus ihrer Sicht kleine Bausteine zu dieser Frage zusammen zu tragen, zum Beispiel >Kinder haben<, >gesund sein<, >genug Geld haben< … Daraus entwickelten sich sehr intensive Gespräche über mehrere Monate. Was darf man, was darf man nicht? Warum eigentlich nicht?

Stück um Stück wuchsen Gedanken zusammen, tauchten zunächst ganz schemenhaft erste innere Lebenszusammenhänge auf, wurden Widersprüche und Konflikte erkennbar, musste nach übergeordneten Leitlinien gefragt und gesucht werden – ein äußerst langwieriger aber spannender Bewusstwerdungsprozess.

Zur Kontrolle stellten wir immer wieder die ZEHN GEBOTE der Bibel dagegen, die ja richtig verstanden fast alle Verbote sind: >Du sollst nicht …<. Wir suchten nach p o s i t i v e n Leitlinien. Die Jugendlichen gerieten dabei immer wieder in Auseinandersetzung, ja, in Widerspruch zu den biblischen Normen.

Daraus entstand die Idee, unsere eigenen Vorstellungen aufzuschreiben, wie wir denn in unserem Leben glücklich werden könnten, ganz konkret. Erste Leitlinien entstanden. Über jeden Satz, über Formulierungen, ja, über einzelne Begriffe wurde diskutiert, gestritten. Schließlich entstanden unsere gemeinsamen >Zehn Grundsätze> mit dem ursprünglichen Titel >Versuche, glücklich zu werden<.

Wir haben dann vor der Konfirmation in unserer St. Jacobi-Gemeinde unsere >Zehn Grundsätze< veröffentlicht und zur Diskussion gestellt. Zugleich haben wir als Konfirmandengruppe angekündigt, unsere Thesen im Konfirmationsgottesdienst vorzutragen und zu erklären.

Ein Proteststurm brach los – allzumal mit dem Vorwurf, wir würden die biblischen Gebote außer Kraft setzen. Es entbrannte in der Gemeinde ein hartes Pro und Kontra – um einzelne Thesen und um unseren Versuch im Ganzen.

Die Wochenzeitschrift DIE ZEIT, in der ich damals ganzseitige kritische Theologie-Artikel geschrieben hatte – veröffentlichte unsere zehn Konfirmandengrundsätze. Durch die Veröffentlichung der ZEIT erhielten sie den Namen Die HAMBURGER ZEHN GEBOTE. Sie ernteten eine riesige Leserbriefresonanz im Für und Wider. Schulklassen, Konfirmandengruppen diskutierten DIE HAMBURGER GEBOTE.

Unsere Konfirmandengruppe war durch die Öffentlichkeit natürlich sehr aufgeregt – und durch den Versuch des Kirchenvorstandes, mir als Pastor die Darstellung unsere Zehn Gebote im Konfirmations-gottesdienst zu verbieten. Der Theologiestreit an St. Jacobi in Hamburg trat damit in seine dramatische Phase, gleichsam als letzter Anklagepunkt für den dann folgenden Ketzerprozess der Kirche gegen mich.

Denn in Absprache mit der Konfirmandengruppe haben wir gegen den Widerstand des Kirchenvorstandes die HAMBURGER ZEHN GEBOTE im Konfirmationsgottesdienst doch vorgetragen und zu den besonders umstrittenen Thesen 1 – 2 und 6 Stellung genommen.

(2) Die HAMBURGER ZEHN GEBOTE  1 – 3

1] Kinder haben
Eltern können sich in ihren Kindern positiv verwirklichen.
Deshalb sollst du dich als Vater oder Mutter so verhalten, dass deine Kinder dich lieben können.

2] Finanziell gesichert sein
Der Staat hat seinen Bürgern durch einen angemessenen Wohlstand ihre Existenz zu sichern.
Du selber sollst bereit sein, deine Fähigkeiten für die Gesellschaft voll einzubringen.

3] Freizeit gestalten
Freizeit ist nicht nur dafür da, um sich von der Arbeit zu erholen.
In deiner Freizeit sollst du vor allem deine eigenen Interessen wahrnehmen und deine persönlichen Fähigkeiten frei entfalten.

 

Erste Stellungnahme der Konfirmanden zu ihren zehn Thesen
während ihrer Konfirmation

Unsere These 1 lautet unter dem Stichwort >Kinder haben<:
Eltern können sich in ihren Kindern positiv verwirklichen. Deshalb sollst du dich als Vater oder Mutter so verhalten, dass deine Kinder dich lieben können.

Zu dieser These haben wir viel Kritik bekommen. Deshalb dazu drei erklärende Bemerkungen:

1] Seit Jahrtausenden ist festgelegt, was Kinder ihren Eltern schuldig sind. Heißt es doch schon im 4. Gebot der Bibel: Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass es dir wohl ergehe und du lange lebst auf Erden.

Die Kinder haben zu tun! Die Kinder haben zu gehorchen. Die Kinder haben sich wohl zu verhalten!

Was sollen eigentlich die Eltern tun? Davon kein Wort. Wie selbstverständlich wird da vorausgesetzt, dass die Eltern schon richtig handeln. Zumindest scheint ihr Verhalten als unantastbar zu gelten. Ist aber das Handeln der Eltern an ihren Kindern wirklich so selbstverständlich immer richtig? Wir meinen: Nein. Deshalb wird in unserer ersten These formuliert, was Eltern ihren Kindern schuldig sind, nämlich: Eltern haben sich so zu verhalten, dass ihre Kinder sie lieben können.

2] Wer genau auf das 4. Gebot der Bibel hört, der stellt fest, dass in diesem Gebot gesagt ist: Kinder sollen ihre Eltern lieben, damit sie selber gut und lange auf Erden leben. Wir halten das für sehr egoistisch, wenn man seine Eltern nur deshalb liebt, damit man selber lange lebt.

Wir meinen, dass die Liebe zwischen Eltern und Kindern einen anderen Grund haben müsste, sozusagen einen Grund zwischen den Eltern und Kindern selbst, nämlich: Gegenseitiges Vertrauen, gegenseitiges Verständnis, gegenseitige Achtung. Grund müsste doch eine persönliche Beziehung sein – ganz unabhängig davon, wie lange jemand lebt.

3] Darum also unsere Aufforderung, dass Vater und Mutter sich so verhalten, dass ihre Kinder sie lieben können. Wir meinen:
– Kinder können nur Vertrauen entwickeln, wenn Eltern ihnen zuerst Vertrauen geschenkt haben;
– Kinder können nur Verständnis aufbringen, wenn Eltern ihnen zuerst Verständnis gezeigt haben;
– Kinder können nur Achtung erweisen, wenn Eltern ihnen zuerst Achtung entgegen gebracht haben.

Es ist schon höchst wichtig, dass Eltern ihren Kindern das Positive vormachen! Wir vermuten nämlich, dass so viele Kinder deshalb so wenig Vertrauen, so wenig Verständnis, so wenig Achtung haben, weil sie von ihren Eltern nicht erfahren haben, was Vertrauen, was Verständnis, was Achtung ist.

Das Verhalten der Eltern bildet immer die Vorausbedingung für das Verhalten der Kinder. Deshalb: Wenn Vater und Mutter sich so verhalten, dass ihre Kinder sie lieben können, dann wird in vielen Familien das Vertrauen, das Verständnis, die Achtung der Kinder zu Ihren Eltern und auch zu anderen Menschen automatisch wachsen!

 

Zweite Stellungnahme der Konfirmanden zu ihren zehn Thesen
während ihrer Konfirmation

Unsere These 2 lautet unter dem Stichwort >Finanziell gesichert sein<:
Der Staat hat seinen Bürgern ihre Existenz durch einen angemessenen Wohlstand zu sichern. Du selber sollst bereit sein, deine Fähigkeiten für die Gesellschaft voll einzubringen.

Auch diese These ist heftig kritisiert worden. Deshalb hier die drei Hauptpunkte unserer Überlegungen:

1] Wenn man vom Staat spricht unterliegt man leicht der Versuchung, Staat und Gesellschaft gleich zu setzen. Wir meinen, dass man nicht einfach sagen kann, der Staat sind wir. Wir alle gehören zwar zur Gesellschaft und haben als Gesellschaft einen Staat. Der Staat ist aber mehr ein Instrument, ein Organ der Gesellschaft, denn der Staat ist von der Gesellschaft gewählt und handelt in ihrem Auftrag. Von daher trägt der Staat für die Gesellschaft eine besondere Verantwortung. Er führt die Gesellschaft. Er regelt ihre Geschäfte. Wenn wir vom Staat sprechen, dann meinen wir damit besonders jene Organe, die unser Land durch Gesetzgebung und Rechtsprechung leiten.

2] Wir stellen fest, dass unser Staat in seinen Rechten und Pflichten bereits weitgehend ein Sozialstaat ist. Das heißt, er sorgt bereits gerade auch für die finanzielle Sicherung derer, die in Not geraten sind, die kein ausreichendes Einkommen haben. Etwa durch Krankenversicherung oder durch Rente, durch Arbeitslosen-unterstützung oder durch Sozialhilfeleistungen wie Wohngeld und durch vieles andere mehr. Unser Staat versteht sich also ganz ohne Frage so, dass er für soziale Sicherung seinen Bürgern Geld zur Verfügung stellt.

Frau B. schreibt uns in diesem Sinne, dass der Staat nicht Wohlstand, sondern Auskommen garantieren solle. Das ist im Ansatz richtig, speziell in Ländern, in denen es für viele Menschen um das nackte Überleben geht, also etwa in den Entwicklungsländern. In unserem hoch industrialisierten Land scheint uns das zu wenig zu sein. Nehmen wir nur ein Beispiel: Die Renten vieler älterer Menschen scheinen uns im Blick auf den gesamten Lebensstandard unseres Landes in vielen Fällen keineswegs angemessen zu sein. Hier sind ganz einfach andere Maßstäbe zu setzen als die des Existenzminimums. Deshalb haben wir als Zielvorstellung >angemessener Wohlstand< geschrieben.

3] Natürlich kann der Staat generell nur Wohlstand garantieren, wenn die Gesellschaft, wenn jeder Einzeln bereit ist, sich mit seinen Fähigkeiten für die Ziele des Gesamten voll einzusetzen. Da haben unsere Kritiker ganz Recht. Deshalb schreiben wir ja aber auch ganz bewusst: Du sollst bereit sein, deine Fähigkeiten für die Gesellschaft voll einzusetzen. Wir wollen damit auch sagen, dass man eben nicht nur arbeiten soll, um für sich selber Geld zu verdienen, sondern dass man seine Arbeit auch so verstehen soll, dass sie dazu beiträgt, dass die Gesellschaft als Ganzes vorankommt.

Wenn man bedenkt, wie viele Jugendliche unserer Generation Verantwortung für die Aufgaben der Gesellschaft einfach leugnen und auf den Staat schimpfen, so haben wir es gerade auch als unsere christliche Pflicht empfunden, unsere Mitverantwortung für das Ganze zu formulieren.

(3) Die HAMBURGER ZEHN GEBOTE  4 – 6

4] Leben schützen
Das Recht auf Leben ist unantastbar.
Versuche, Leben nicht nur da zu schützen, wo biologischer Tod droht, sondern auch da, wo es durch soziale Missstände verelendet.

5] Gesundheit pflegen
Gesundheit ist Voraussetzung, sein Leben bestmöglich zu gestalten.
Deshalb sollst du alle – vor allem auch vorbeugende – Möglichkeiten nutzen, um deine Gesundheit zu erhalten.

6] Sich Schönes leisten
Der Mensch kann das Leben auch genießen.
Versuche, dir dein Leben über die Bedürfnisbefriedigung hinaus durch Luxus zu verschönen.

 

Dritte Stellungnahme der Konfirmanden zu ihren zehn Thesen
während ihrer Konfirmation

Unsere These 6 lautet unter dem Stichwort >Sich Schönes leisten<:
Der Mensch kann das Leben auch genießen. Versuche, dir dein Leben über die Bedürfnisbefriedigung hinaus durch Luxus zu verschönen.

Unsere sechste These hat nicht allein Kritik hervorgerufen, sondern vielerorts Verärgerung geschaffen. Bevor wir nun allen unseren Kritikern Recht geben, geben wir noch Folgendes zu bedenken:

Wenn man in unserer Gesellschaft die Menschen beobachtet, so stellen wir fest, dass sich viele Luxus leisten. Damit meinen wir, dass sie in Verhältnissen leben, die weit über dem liegen, was man als dringend notwendig bezeichnen müsste.
– Denken Sie einmal an die vielen schönen Luxushäuser mit großen Gärten und Swimmingpools;
– Zählen Sie einmal, wie viele Menschen in unserer Stadt große Luxusautos fahren
– oder wie viele Menschen außergewöhnlich große Rechnungen machen in Möbelhäusern, in Schmuckläden, in Restaurants.

Wir beobachten, dass eben sehr vieles, was um uns herum in unserer Gesellschaft abläuft, weit mehr ist als notwendige Bedürfnisbefriedigung. Unsere These will dazu sagen: Das Recht Luxus zu genießen, ist nicht allein das Recht Privilegierter! Wenn schon Luxus, dann ist es grundsätzlich das Recht jedes Menschen.

Das ist nämlich eine doppelte Moral! Einerseits genießen die Reichen ihren Luxus ungehindert weiter. Wenn aber andererseits die, die viel weniger haben, auch danach streben, größeren Anteil an den materiellen Gütern zu gewinnen, dann werden sie abgeschreckt mit der Klage, was für eine ungeheure Gefahr doch Luxus sei. Solange nicht – gerade auch reiche – Christen den Luxus, in dem sie leben, aufgeben, so lange ist es sehr fragwürdig, wenn ärmere Schichten damit abgespeist werden, dass Luxus doch eigentlich schnöder Kapitalismus sei [und von daher selbst unsere These 2 verschrien wird].

Doch was heißt eigentlich: Sein Leben genießen? Frau B. schreibt uns dazu: Die Verschönerung des Lebens durch Luxus halte ich für schlecht: Vielleicht könnte man statt Luxus Kultur sagen: Bücher, Reisen, Geselligkeit, Vertiefen in weltliche und religiöse Interessen.

Wir meinen, dass Frau B. damit durchaus auf etwas Wichtiges hinweist. Sich Schönes leisten, das ist sicher eine sehr bunte Lebenspalette. Nur ist nicht klar, ob nicht letztlich gerade auch >Kultur< Ausdruck von >Luxus< sein kann. Wenn sich jemand ein Bild für 150.000 DM an die Wand hängt oder ständig auf vom Staat hoch subventionierten Opernplätzen sitzt: Ist das nicht bei aller Kultur auch Luxus, den sich nur eine ganz bestimmte Schicht leisten kann? Ist nicht alles, was Kultur ausmacht, wesentlich von viel Geld abhängig?

Wir geben gerne zu, dass wir besonders in unserer These 6 unsicher sind – gerade auch wegen der vielen Kritik. Wir beobachten aber, dass viele, die uns hier oft wütend kritisieren, eben genau s o leben, wie sie es uns bestreiten wollen.

(4) Die HAMBURGER ZEHN GEBOTE  7 – 9

7] Erfolg haben
Jeder Mensch braucht Erfolgserlebnisse.
Bring deshalb eigene gute Leistungen, die dir Anerkennung verschaffen – ohne anderen ihre Erfolge zu missgönnen.

8] Liebe schenken
In der Liebe geben sich Menschen einander ganz hin.
Bemühe dich, Menschen zu verstehen, ihnen zu vertrauen, zu ihnen zu halten, ihnen Gutes zu tun, für sie Opfer zu bringen und deinen Partner körperlich zu befriedigen.

9] Mitleid haben
Barmherzigkeit ist Verzicht darauf, Recht durchzusetzen, Ansprüche auszuüben, Urteile zu vollstrecken oder eigenen Vorteil wahrzunehmen.
Wenn du erkennst, dass jemand in Not steckt, zögere nicht, ihm zu helfen.

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Am meisten Verärgerung hat in der Jacobi-Gemeinde der Schlusssatz von Gebot 8 gemacht: … und seinen Partner körperlich zu befriedigen. Es herrschte aggressive Entrüstung, dass >eine solche Sache< im Konfirmandenunterricht besprochen worden war und im Gottesdienst vom Altarraum aus vorgetragen werden sollte.

Anno 1974. Folgejahre der Achtundsechziger. Wir hatten sehr intensiv über das Mann-Frau- und Frau-Mann-Verhältnis gesprochen. Gute, offene Gespräche. Trotz der Proteste wollten die Konfirmanden auch ihr 8. Gebot vortragen. Eine Konfirmandin hat es vorgelesen.

Eigentlich wollten wir während der Konfirmation auch zum 8. Gebot eine Erklärung abgeben. Doch die Konfirmanden haben ganz bewusst auf eine weitere Stellungnahme dazu verzichtet, um nicht zusätzliche Provokation und Unruhe während des Festgottesdienstes mit den Eltern, mit Oma und Opa, Onkeln und Tanten und mit der Gemeinde zu riskieren.

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(5) Die HAMBURGER ZEHN GEBOTE  10

10] Gott denken
Religion ist der Versuch der Menschen, im Leben Sinn zu finden.
Du kannst dir Gott vorstellen als Höchstwert deines Lebens, um dir so die Fülle deiner Lebensmöglichkeiten bewusst zu machen.

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Der theologische Streit mit den kirchlichen Theologen im nachfolgenden Glaubensprozess der Kirche (VELKD) gegen mich von 1974 bis 1980 ging weniger um die jeweils einzelnen zehn Thesen als vielmehr um das Grundkonzept der von den Konfirmanden in der Kirche vorgetragenen zehn Gebote:
– Die biblischen Zehn Gebote beginnen mit dem ersten Gebot als Proklamation des absoluten alttestamentlichen Gottes: >Ich bin der Herr, dein Gott<. Aus diesem Anspruch heraus werden die biblischen Zehn Gebote als absoluter Wille Gottes unantastbar absolut gesetzt. Sie sind damit eine >jenseitige< Werteskala.
– Die Hamburger Zehn Gebote enden dagegen mit der Feststellung, dass sich der Mensch Gott selber denkt und denken kann. Alle Gebote sind von daher Folge des menschlichen Denkens und damit menschlich-relative >diesseitige< Wertsetzungen. An dieser Gegenüberstellung entbrannte später mein Konflikt mit der Kirche um die Zehn Gebote und um Gott.

Nachdem die Konfirmanden die neuen Zehn Gebote mit ihren drei Erklärungen im Gottesdienst vorgetragen hatten, habe ich der Gottesdienstgemeinde diesen diesseitig-weltlichen Ansatz in meiner Konfirmandenpredigt mit dem Thema >Für ein anderes Menschenbild< verdeutlicht:]

Es gibt keinen absoluten Sinn, keine absoluten Werte. Für die menschliche Vernunft ist in der Wirklichkeit der Welt kein jenseitig gesetzter und kontrollierter Sinn- und Handlungswert erkennbar. Alle menschlichen Handlungen sind in der kosmischen Gesamtwirklichkeit sinn- und wertfrei.

Gibt es keinen absoluten Sinn, keine absoluten Werte, dann muss der Mensch Sinn und Werte selber setzen. Zwingende Folgerung aus der erkennbaren Sinn- und Wertfreiheit der Wirklichkeit ist nicht die Sinnlosigkeit oder Wertlosigkeit des Lebens wie etwa im Nihilismus. Die Folgerung aus der Sinn- und Wertfreiheit der Wirklichkeit ist die ganz bewusste Sinngebung und Wertsetzung durch den Menschen selbst. Der Mensch muss Sinn und Ziele, muss Werte und Normen selbst setzen und selbst vertreten. Er muss eben nicht nur Gebote gehorsam praktizieren, er muss sie auch selber noch schaffen und verantworten.

Gerade im äußersten Erkenntnisstand der realen Welt mit allen Anforderungen an uns Menschen mit aller Not, mit allen Bedrohungen und Begrenzungen, gilt es deshalb, alle möglichen Lebensgestaltungen positiv wahrzunehmen und voll auszuschöpfen. Gerade wenn die Sinn- und Wertoffenheit der Existenz von uns rational erfasst wird, müssen und können wir umso bewusster Leben, Gemeinschaft, Gesellschaft mittels eines evolutionären Bewusstwerdungsprozesse gestalten. Die rationale Analyse des realen Seins ruft den Menschen deshalb ganz persönlich in die rationale Mitverantwortung.

Das zielt auf ein anderes, neues Verständnis vom Menschen: Wir Menschen können mit unserer Vernunft eigene Kräfte und Aktivitäten freisetzen zur Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Wir haben die Fähigkeit, innerhalb gesetzter Grenzen persönlich und gemeinsam Leben zu gestalten. Ja, nur das, was wir selbst gestalten, gewinnt Gestalt. Nur das, was wir selbst freisetzen, gerät zur Freiheit. Nur das, was wir selbst erfüllen, gelangt zur Erfüllung – von den einfachsten persönlichen Handlungsvorsätzen bis hin zu gesellschaftspolitischen Gesamtstrategien.

Also lebt euer Leben immer erneut in vernünftiger Eigenverantwortung. Geht mutig den Weg, den ihr euch mit euren zehn eigenen Geboten selbst vorgegeben habt. Sie weisen Schritte in ein glückliches Leben.

(6) Email von Marianne U. aus K. im August 2013

Sehr geehrter Herr Schulz,
ich bin eine von den Konfirmandinnen mit den zehn Thesen, hab sie eben noch mal gelesen und gemerkt, ich hab sie nie vergessen.

Was man auch immer glauben mag, ob es Gott oder eine andere Instanz gibt, hat für mich nie eine Rolle gespielt, aber gut zu anderen Menschen zu sein, das schon (was ich bei vielen, die regelmäßig in die Kirche gehen, vermisse!).

Und irgendwie hab ich mich an unsere Thesen gehalten, hab wunderbare Kinder, einen tollen Beruf (Anästhesistin), arbeite zeitweise in Nepal, hab hier aber auch viel Spaß mit z.B. meinem Pferd, meinem Mann, war allerdings auch lange alleinerziehend …

Ich finde, unsere Thesen hatten was Ehrliches und Realistisches und verletzten niemanden.

Ich danke Ihnen im Nachhinein und wünsche Ihnen alles Gute. Fahren Sie immer noch so einen Geländewagen?

Viele Grüße

Marianne U. aus K.

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Sehr verehrte, liebe Marianne U.
Ihre Email war eine tolle Überraschung.

Ich habe mich darüber riesig gefreut.

Zum anderen freue ich mich natürlich auch darüber dass unsere Konfirmandenthesen für Sie eine so bleibende Bedeutung haben, dass sie gar Ihr positives Leben ein Stückweit mitbestimmt haben. Das ist natürlich der Idealwunsch eines Pastors, dass die jungen Menschen aus ihrem Konfirmandenunterricht etwas Positives ins Leben mitnehmen.

In der Tat waren die zehn Thesen etwas Ungewöhnliches und haben als die >Hamburger Zehn Gebote< viel Aufsehen erregt. Allerdings waren auch sie als Konfirmanden besonders zugänglich. Für mich war Ihre Email jetzt das schönste Geschenk zu meinem 76. Geburtstag

Aufgrund Ihrer Email habe ich jetzt unsere >Hamburger Zehn Gebote< bei facebook.de/drpaulschulz ins Netz gestellt.

(7) DIE HAMBURGER 10 GEBOTE insgesamt

Vorbemerkung:
Infolge ihrer Veröffentlichung 1974 in der Wochenzeitschrift DIE ZEIT und der dort riesigen Leserbriefreaktion wurden die >HAMBURGER ZEHN GEBOTE< 1975 auch abgedruckt in der bilderprächtigen 3bändigen Folioausgabe DIE ZEHN GEBOTE – HEUTE herausgegeben vom Kinderhilfswerk e. V. und dem Institut für Kulturgeschichte AG unter der Chefredaktion von Thilo Koch in Zusammenarbeit mit einem wissenschaftlichen Beirat und mit einem Geleitwort von Bundespräsident Walter Scheel.

Im Band 3, Seite 204 heißt es dort:

 

Versuche, glücklich zu sein!
Die 10 Gebote – neu

Eine Hamburger Konfirmandengruppe mit Pastor Dr. Paul Schulz von der Hauptkirche St Jacobi erarbeitete 10 Grundsätze, die die 10 Gebote für unsere Zeit neu interpretieren. Dies ist das Ergebnis:

1] Kinder haben
Eltern können sich in ihren Kindern positiv verwirklichen.
Deshalb sollst du dich als Vater oder Mutter so verhalten, dass deine Kinder dich lieben können.

2] Finanziell gesichert sein
Der Staat hat seinen Bürgern durch einen angemessenen Wohlstand ihre Existenz zu sichern.
Du selber sollst bereit sein, deine Fähigkeiten für die Gesellschaft voll einzubringen.

3] Freizeit gestalten
Freizeit ist nicht nur dafür da, um sich von der Arbeit zu erholen.
In deiner Freizeit sollst du vor allem deine eigenen Interessen wahrnehmen und deine persönlichen Fähigkeiten frei entfalten.

4] Leben schützen
Das Recht auf Leben ist unantastbar.
Versuche, Leben nicht nur da zu schützen, wo biologischer Tod droht, sondern auch da, wo es durch soziale Missstände verelendet.

5] Gesundheit pflegen
Gesundheit ist Voraussetzung, sein Leben bestmöglich zu gestalten.
Deshalb sollst du alle – vor allem auch vorbeugende – Möglichkeiten nutzen, um deine Gesundheit zu erhalten.

6] Sich Schönes leisten
Der Mensch kann das Leben auch genießen.
Versuche, dir dein Leben über die Bedürfnisbefriedigung hinaus durch Luxus zu verschönen.

7] Erfolg haben
Jeder Mensch braucht Erfolgserlebnisse.
Bring deshalb eigene gute Leistungen, die dir Anerkennung verschaffen – ohne anderen ihre Erfolge zu missgönnen.

8] Liebe schenken
In der Liebe geben sich Menschen einander ganz hin.
Bemühe dich, Menschen zu verstehen, ihnen zu vertrauen, zu ihnen zu halten, ihnen Gutes zu tun, für sie Opfer zu bringen und deinen Partner körperlich zu befriedigen.

9] Mitleid haben
Barmherzigkeit ist Verzicht darauf, Recht durchzusetzen, Ansprüche auszuüben, Urteile zu vollstrecken oder eigenen Vorteil wahrzunehmen.
Wenn du erkennst, dass jemand in Not steckt, zögere nicht, ihm zu helfen.

10] Gott denken
Religion ist der Versuch der Menschen, im Leben Sinn zu finden.
Du kannst dir Gott vorstellen als Höchstwert deines Lebens, um dir so die Fülle deiner Lebensmöglichkeiten bewusst zu machen.

(8) Zusammenfassung in drei Thesen

(9) Generelle Schlussfolgerungen