Buch 01: Die Evolution der Natur

Die Lehre vom Sein

Diskurs 01.02


Atheistische Naturlehre

(1) Atheistisches Naturverständnis.

In seinem Verständnis der Natur unterscheidet sich der säkular-wissenschaftlich denkende Mensch ganz wesentlich von einem religiös-gläubigen Menschen. Ja, das Verständnis der Natur ist das entscheidende Kriterium der Konfrontation zwischen einem atheistischen und einem religiösen Lebensbewusstsein, zwischen einem Denken ohne Gott und einem Denken mit Gott. Wie der Mensch die Natur versteht, darin ist angelegt, wie er sich selber in seinem eigenen Wesen als Mensch versteht.

Der Wanderer über dem Nebelmeer – Caspar David Friedrich, 1818

Der atheistisch denkende Mensch im Abendland hat sich über 2600 Jahren durch sein kritisches Bewusstsein Schritt für Schritt aus dem religiösen Naturverständnis freigesetzt. Durch sein ständiges Fragen, wie und warum etwas so ist, wie es naturgemäß ist, hat er immer neue Erkenntnisse über die Natur gesammelt. Er hat viele der Naturgesetze erkannt und deren Wirkungsprinzipien bis in die mikro- und makrokosmischen Dimensionen hinein aufgeschlüsselt. Natürlich weiß der Mensch damit noch längst nicht alles. Vieles zeigt sich noch unerforscht. Dennoch besitzen wir heute ein umfassendes säkulares Naturverständnis.

Dabei erschließt sich dem naturwissenschaftlich denkenden Menschen die weltliche Wirklichkeit als ein in sich einheitliches Naturprinzip. Säkulares Naturverständnis meint insgesamt das Bild einer in sich geschlossenen immanenten Welt, in der an keiner Stelle Dinge außerhalb des materiellen Evolutionsprinzips passieren. Dabei ist mit dem Begriff Natur eine alles umfassende Wirklichkeit beschrieben: Das Sein, das Sosein, das Dasein, das Gesamtsein, das Nichtsein – freigesetzt von allen transzendenten Spekulationen. Nichts läuft contra naturam, gegen die Natur. Sein gibt es nur auf der Basis der Natur. Sein ist Natur.

Wenn etwas als anders erkannt wird als es bisher erkannt wurde oder wenn etwas ganz neu erkannt wird, dann kann es nur innerhalb der Evolution dieser in sich geschlossenen materiellen Welt liegen. Für eine radikale Umwälzung des materiellen Prinzips gibt es zurzeit wissenschaftlich keine zwingenden Gründe. Von daher ist es nicht anzunehmen, dass in unserem bestehenden offenen Nichtwissen Dinge stecken müssen, die die innere Geschlossenheit des weltlichen Seins aufheben. Im Gegenteil. Alles objektiv Erkennbare bestätigt die materielle Grundstruktur der Natur und damit die natürliche Ganzheit des weltlichen Seins. Die natürliche Ganzheit des weltlichen Seins ist von daher das Prinzip unseres säkularen Weltverständnisses.

(2) Worin aber erweist sich das säkular Erkannte als objektive Erkenntnis? Wodurch nähern wir uns mit unserem Wissen der Objektivität der Natur?

Die säkulare Objektivität der menschlichen Erkenntnis erweist sich in der Machbarkeit durch den Menschen selbst. In der Machbarkeit aufgrund säkularer Rationalität liegt der entscheidender Sprung vom quantitativ-passiven zum qualitativ-aktiven Wissensstand. Dieser Sprung, in nahezu allen Bereichen der Naturwissenschaften nachweisbar, lässt sich am aktuellen Beispiel der Biogenetik besonders gut verdeutlichen:

Zum einen zeigt ihre Forschungsgeschichte in den letzten 40 Jahren eine fantastische Denkleistung in einer schier unglaublichen Zahl von Einzelergebnissen: In akribischer Laborarbeit wurden weltweit immer erneut Fragen entwickelt, Versuche projektiert, Testreihen ausgewertet, Ergebnisse formuliert und daraus weiterführende Fragen definiert. So wurde die hoch komplizierte menschliche Genetik entschlüsselt vom molekularen Zellenaufbau bis hin zur jüngst gelungenen Bestimmung des Erbanlagecodes DNA.

– Zum anderen aber entwickelt sich eben aus dieser Masse des exakten Wissens ein neuer, höherer Anspruch der rationalen Vernunft, der Anspruch der Machbarkeit. Die menschliche Vernunft greift jetzt selbst in die Lebensnatur ein. Er kann Organteile nachbauen und funktional implantieren. Er kann Zellen duplizieren. Er kann Erbgut entziffern und korrigieren. Er kann aus adylen oder embryonalen Stammzellen natürliche Gewebe nachwachsen lassen, etwa Herzmuskel, Zahnschmelze, Haut- oder gar Hirnsubstanz. Er wird Lebewesen manipulieren, nicht nur klonen, sondern neu züchten. Der Mensch wird mit seiner rationalen Intelligenz Dinge machen können, die jetzt noch kaum vorstellbar erscheinen. Der Mensch wird auch selbst neues Leben entstehen lassen.

In der gewaltigen Forschungsanlage Cern in der Schweiz

– Zum Dritten: Wie in der Biogenetik gilt auch für alle anderen naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozesse von der Elementarforschung bis hin zur Weltraumforschung: Nirgends kommt in der modernen Forschung Gott vor. Der säkular forschende Mensch glaubt nicht mehr an Gott und über ihn an ein supranaturales Sein. Gott ist kein realer Faktor der Naturwissenschaften. In keinem Labor der Welt wird Gott ernsthaft als Faktor des Naturgeschehens in Rechnung gestellt, weder als Axiom, noch als Hypothese, noch als Erkenntnis bestimmend. Der Mensch erklärt das Sein und gestaltet selbst das Sein gemäß den erkannten Naturgesetzen. Er selber ist Schöpfer von Sein, von weltlicher Wirklichkeit.

Diese Machbarkeit aufgrund naturwissenschaftlicher Forschung ist die zwingende Erkenntnisform der säkular-objektiven Rationalität. Denn in ihr erreicht die weltliche Vernunft des Menschen ihre größtmögliche Annäherung an die objektive Wirklichkeit. Wo es dem Menschen gelingt, aus der Erkenntnis der Natur und ihrer Gesetze die Natur selber nachzubauen oder gar aus den Naturgesetzen heraus Neues zu schaffen, da erweist sich das Erkannte als objektiv, als wirklich, ja, als diesseitige Realität. Was vom Menschen machbar ist, das erweist sich als real existent.

In diesem Sinne erschließt sich dem Menschen erkenntnistheoretisch der Schritt vom Kleinen zum Großen: Was er im begrenzten Kleinen selber machen kann, vollzieht sich ihm analog im unbegrenzen Großen. Da die Naturgesetze im Kleinen wie im Großen in gleicher Weise wirken, erkennt der Mensch heute zunehmend im mikrokosmischen Bereich die gleichen Seinsprinzipien wie im makrokosmischen Bereiches und umgekehrt. Er kann in ihnen Entstehungs- und Entwicklungsprozesse erkennen, soweit er ihre prinzipiellen Wirkungsprozesse verstehen und erklären kann. Auch wenn er sie selber nicht machen kann, kann er sie zumindest in Annäherung an das real existierende Sein real rekonstruieren.

(3) Im Kontra dazu: Das religiöse Naturverständnis

Die christliche Naturlehre ist dagegen nicht mehr als nur eine besondere Spielart des generellen spekulativ-religiösen Naturverständnisses. Denn wie alle Religionen vertritt auch die christliche Theologie die fundamentale These, dass die Natur von Göttern bzw. Gott gemacht und beherrscht sei. Wie alle Religionen postuliert sie deshalb eine jenseitige Welt, die über der Natur steht, die Natur geschaffen hat und über die Natur Macht ausübt. Das Christentum steht mit dieser These in seinem eigenen Naturwissen auf keinem höheren Denk- und Erkenntnisniveau als die einfachsten Ur-Religionen.

Dieses religiöse Naturverständnis gerade auch des Christentums und darüber hinaus aller Religionen insgesamt lässt sich in drei Stufen differenzieren, die in der menschlichen Geistes- und Ideengeschichte stufenweise nacheinander entstanden sind:

Stufe 1: Die animistische Darstellung der Natur in der Religion.

Vor- und Grundstufe der Religionen ist ein animistisches Naturverständnis, das in verschiedenen Ausprägungen schon beim Frühmenschen bestanden hat. Anima bedeutet im Lateinischen Seele, meint also auf die Natur bezogen eine beseelte Natur: Dabei werden allem Gegenständlichen, etwa Tieren, Pflanzen, ja, Steinen, Bergen, Sternen oder Naturerscheinungen wie Gewitter, Sonnenfinsternis, Geburt und Tod inhärente Wirkungskräfte zugesprochen, die mit magischen Kräften speziell auf den Menschen Wirkungen und Einflüsse haben – als gute oder böse Geister, als Engel oder Dämonen, insgesamt ein Polydämonismus.

Die magisch-animistische Deutung der Natur findet sich ursächlich auch überall in tragender Bedeutung im biblisch-christlichen Glauben, Beispiele etwa: Der brennende Busch, aus dem sich der alttestamentliche Gott dem Mose offenbart hat; die Feuerflammen auf den Häuptern der Apostel zu Pfingsten als Escheinung des Heiligen Geistes; die Verwandlung von Brot und Wein zum Leib Christ beim Abendmahl; alle Wunderheilungen von Jesus bis Lourdes einschließlich der Auferstehung Jesu; in allen Gebeten zur magischen Abwendung von Unglück und Not oder in Segnungen zum Guten und zum Glück.

Darüber hinaus steckt animistisch-magisches Bewusstsein auch heute noch selbst in unserer säkularen Welt, nicht nur astrologisch im täglichen Horoskop, sondern im verbreiteten Aberglauben an Wundermittel und Besprechungen, in übersinnlichen Geisterscheinungen, in wundersamen Vorahnungen oder Grenzerfahrungen der Todesnähe. Insgesamt ein unbegrenzter Fundus von Naturmagie mit spiritueller Wesenhaftigheit der Realität – in weiten Bereichen der modernen Esoterik, speziell auch in dem gesamten Hokuspokus von Rudolf Steiner.

Stufe 2: Die polytheistische Darstellung der Natur in der Religion

Religionsethnologisch scheint die These, dass alle Religionen aus dem Animismus entstanden sind, dann Gültigkeit zu haben, wenn man diese Vorstufe in sich nicht zu eng fasst, sondern in den frühen Naturvölkern als eine breite Basis versteht aus vielartiger Magie, aus Zauber, Totemismus, exorzistischen Ritualen und Beschwörungen. Dies erklärt dann die weitere Religionsentwicklung in unterschiedlichen Kulturkreisen als einen Evolutionsprozess des religiösen Bewusstwerdens: Aus den animistischen Naturdeutungen entwickeln sich menschheitsgeschichtlich zunehmend einzelne Götter, die selbst nicht mehr nur dämonische Naturkräfte sind, sondern zu konkreten menschenähnlichen oder menschengleichen Gestalten mutieren, die die Natur bestimmen und beherrschen.

Die Verwandlung zur Göttin Flora. Sandro Botticelli, Primavera, Ausschnitt Göttin Flora (1485)

Diese evolutionäre Religionsentwicklung innerhalb der allgemeinen Geistesgeschichte war eine erste abstrahierende Denkleistung der frühen Menschen, indem sie die magischen Deutungen der Naturkräfte von der Natur lösten und sie hypostatisierten, das heißt, sie in menschgestaltige Personen zu Göttern machten. Eine solche Verwandlung der Natur in anthropomorphe (griechisch: menschgestaltige) Personen wird sehr schön sichtbar in einem alten Mythos, den der lateinische Dichter Ovid (-43 bis 17) in seiner METAMORPHOSE VI literarisch umgestaltet hat und den Sandro Botticelli 1485 später als Comic-Motiv (hier als Ausschnitt gezeigt) in sein berühmtes Renaissance-Bild PRIMAVERA in einem weiterführenden Zusammenhang eingearbeitet hat: Der warme Südwind Zephyr entdeckt die Nymphe Chloris, die einen Busch bewohnt. Sie hat Scheu vor seiner Berührung und versucht, ihm zu entfliehen. Der Wind verfolgt sie, umfängt sie mit seinen weichen Armen. Durch seine Berührung erblüht die Nymphe zu einer sich öffnenden Schönheit, wird zur aufbrechenden verschwenderischen Natur, zur Göttin des Frühlings, zur strahlenden weiblichen Flora.

Mit seinem Titel Metamorphose hat Ovid damals schon einen treffenden Begriff gefunden, um den Wandlungsprozess vom animistischen Naturwesen (der Busch, von einer Nymphe beseelt) zum religiösen Götterwesen (eine menschengleiche selbstständigen Göttin Flora) sichtbar zu machen: Die Natur ist der Stoff, aus dem die Götter geworden sind. Indem der Mensch mit zunehmendem Selbstbewusstsein selbst im Mittelpunkt der Natur steht, nehmen die magischen Naturkräfte als Götter menschgestaltige Formen an. Das neue anthropozentrische Menschenbild bedingt das neue anthropomorphe Götterbild. Götter werden differenziert, kategorisiert, funktionalisiert. Wie die Göttin Flora bekommen alle Götter ihre spezielle religiöse Bedeutung durch die Funktionen, die ihnen für die Menschen zugesprochen werden. Damit werden sie für die Menschen in übernatürlicher Mächtigkeit als polytheistische Religion manifest und greifbar. Der Götterhimmel – etwa der alten Griechen und Römer – erstrahlt im Glanz beliebig vieler Götter.

Stufe 3: Die monotheistische Darstellung der Natur in der Religion.

Der Monotheismus ist innerhalb der Religionsevolution die Weiterentwicklung der Viel-Götter- Religion auf die denkbar höchste Hierarchieebene eines einzigen Gottes. Nicht mehr die Vielfältigkeit der Natur und der weltlichen Lebensformen bestimmt die Vielartigkeit der Götter. Leitbild für ein neues Gottesbild wird die soziale Machtstruktur des Alleinherrschers. Der Monotheismus ist deshalb Ausdruck des Wandels niederstufiger Kulturen zu Hochkulturen. So wurde das alte Ägypten unter Amenophes IV Echnaton (ca. -1351 bis -1334) als Hochkultur zum Ursprung der monotheistischen Gott-Mensch-Herrschaft. In Folge davon entstand im -13. Jahrhundert das sich neu konstituierende biblische Israel mit dem einen Allein-Gott Jahwe.

Die religiöse Antike hat später die Entmachtung und Vernichtung aller Götter durch einen einzigen (christlichen) Gott als brutalen Atheismus gebrandmarkt. Sie empfand darin einen ungeheuren Verlust ihrer religiösen Lebensfülle mit den vielen unterschiedlichen Göttern. Denn dass der eine absolute Gott nichts Gleichartiges neben sich duldete und deshalb alles um sich herum erniedrigte, ja, auslöschte, bewirkte einen gewaltigen Kulturumbruch. Ohne Frage verengte der Monotheismus eine breite urtümliche Religionsvielfalt auf eine religiöse Monokultur und veränderte damit brutal das Selbstbewusstsein des aus der Antike stammenden Bildungsmenschen.

Im Blick auf das Naturverständnis im Monotheismus ist der Verlust der positiven Naturbezogenheit der Religion besonders kennzeichnend. Aus machthierarchischer Struktur gestaltet, verlor das monotheistische Gottesbild seine Anbindung an die Natur: Der absolut Gott entmachtete nicht nur alle Götter. Er unterdrückt auch die Natur als eine eigenständige Mächtigkeit. Gott als Zentralmacht duldete nichts neben sich, was einen eigenen Anspruch auf Größe hätte haben können, auch nicht die Natur. Gott bedeutet jetzt die totale Unterordnung der Natur und alles weltlichen Seins unter seine absolute Herrschaft. Im gleichen absoluten Anspruch wurden auch die antike Philosophie und Bildung zerstört, die für sich eine völlig eigene Deutungshoheit der Welt und des Dasein des Menschen forderten.

Dieses alte Zerstörungsprinzip wird auch heute noch darin manifest, dass der Monotheismus alles Sein in ein zugespitztes dualistisches Denksystem zwingt und damit in die Konfrontation zweier Welten, die im krassen Gegensatz diametral gegeneinander stehen:

– Die jenseitige, die transzendente Welt beinhaltet immer alles Positive: Gott als der Schöpfergott, Ausgang und Endpunkt allen Seins: Allmächtig, allwissend, allgegenwärtig. Nur in ihm liegt das höchste Gute, der letztgültige Grund allen Seins, das ewige Leben.

– Die diesseitige, die immanente Welt beinhaltet dagegen immer alles Negative: Der Mensch und die Natur als das Geschaffene, in Abhängigkeit und Vergänglichkeit. In ihnen liegt die Unterordnung und Gehorsampflicht, das Begrenzte und Sündige, das Versagen und der Tod.

Im Monotheismus – eben in der jüdischen, in der christlichen und der islamischen Religion – ist das Göttliche von allem irdischen Sein aufs äußerste abgehoben. In allen dualistischen Gegensatzpaare wird das dokumentiert: Schöpfer – Geschöpf. Himmel – Erde. Licht – Finsternis. Gut – Böse. Gerecht – sündig. Ewig – vergänglich. Leben – Tod = Gott – Mensch. Die Reihe ließe sich beliebig ausbauen. In jedem Fall deutet die monotheistische Religion die Natur, den Menschen und die Welt in ihrer Diesseitigkeit immer nur ins absolut Negative.

Entsprechend hat speziell die christliche Theologie ursächlich und wesensmäßig überhaupt gar kein Interesse an der Natur, am weltlichen Menschen, an der diesseitigen Welt. Das Natürliche wird im Menschen geradezu zur äußersten Sündigkeit und das Sündige des Menschen ist die Verderbtheit der Welt. Als von Gott distanziert wird alles Irdische am Ende der Tage von dem einen Gott in einem furchtbaren Endgericht zerstört werden. Es ist keiner weiteren Erkenntnis wert:

Konkret heißt das: Die christliche Theologie selbst hat in den letzten 2000 Jahren nicht eine einzige eigene objektive Naturerkenntnis zu Stande gebracht, die in unserer säkularen Welt heute naturwissenschaftliche Gültigkeit hat. Keine. Sie hat eigenständig nichts erforscht, nichts erkannt, nichts definiert Sie besitzt kein einziges naturwissenschaftliches Patent. Sie hat nicht einmal Kategorien erarbeitet, wie die Natur naturgemäß zu erfassen sei. Sie steht damit nicht nur auf unterstem Niveau säkularer Erkenntnistheorie. Sie steht mit ihrer Naturlehre auf der untersten Stufe der objektiven Naturerkenntnis.

Der Beweis dafür ist für einen normal denkenden Menschen fast makaber:

Ende des 19. Jahrhunderts hatten die neuen Naturwissenschaften ihr erstes großes Jahrhundert voller sensationeller Entdeckungen und Erfindungen abgeschlossen. Auf nahezu allen Gebieten waren außergewöhnliche Denkleistungen der rationalen Vernunft in einem Ausmaß erbracht worden wie nie zuvor. Gerade auch Deutschland galt als Volk der Dichter und Denker, vor allem großartiger Wissenschaftler, Männer und auch schon Frauen mit höchst akribischer Forschungsarbeit und Ergebnissen von Physik bis hin zur Medizin. Es kann gar keine Frage sein, dass die säkulare Bildungsschicht damals aufgrund ihrer nachprüfbaren wissenschaftlichen Erfolge durchaus ein völlig neues Selbstbewusstsein entwickelte.

Da machte sich die katholische Kirche mit ihren Päpsten auf, dieser neuen Vernunftwelt die wohlgefällige Meinung Gottes mitzuteilen:

– 1864 verkündete der Papst Pius IX in seiner Enzyklika Quanta cura, dass der Papst ab sofort in seinen Lehraussagen ex cathedra als unfehlbar zu gelten habe. Zugleich fügte er den Syllabus errorum bei, ein Verzeichnis aller weltlichen Irrlehren und forderte, dass alle wissenschaftliche Forschung der Autorität der katholischen Kirche zu unterstellen sei.

– 1870 wurde das Unfehlbarkeitsdogma vom 1. Vatikanischen Konzil in Rom als unverrückbare göttliche Wahrheit beschlossen. Damit zugleich die Einsetzung des wissenschaftlichen Primats der katholischen Lehrautorität in allen Wissenschaftsfragen.

-1903 setzte Papst Pius X fest, dass die mittelalterliche Philosophie des heiligen Thomas von Aquino die wissenschaftliche Grundlage aller theologischen Studien und ihrer Ergebnisse zu sein habe. Von daher formulierte er 1907 im seiner Enzyklika XXXXXXXXXX eine vernichten Verurteilung des gesamten neuzeitlichen Modernismus in Kunst und Wissenschaft und damit alle säkularen Geistesströmungen der modernen Welt.

– 1910 verkündete Pius X den Antimodernisteneid. Er legte allen Priestern und allen, die in irgendeiner Weise in katholischer Arbeit standen (speziell auch allen katholischen Wissenschaftlern!) die eidliche Verpflichtung auf, nur Wissenschaftliches zu produzieren und zu lehren, das in Übereinstimmung mit der Lehre der katholischen Kirche stände. Alle Zuwiderhandlungen wurden verdammt, das heißt: Der Mensch verliert bei Nichteinhalten seines Antimodernisteneids sein ewiges Seelenheil.

Dieser Antimodernisteneid ist bis heute nicht widerrufen, hat also noch heute volle Gültigkeit. Verwunderlich ist das nicht, denn die Kirche in ihrem absoluten Monotheismus ist nun einmal so. Völlig unverständlich ist, dass dieser Kirche und ihren Päpsten in unserer Zeit heute noch immer intelligente Menschen nachlaufen.

(4) Die gesamte kritische Geistesgeschichte des Abendlandes seit 2600 Jahren kämpft für den Ausstieg aus dem religiös-dualistischen Natur- und Seinsverständnis

Das Wesen des Abendlandes ist nicht die Religion! Weder die antike Vielgötter-Religion mit Zeus, Apollon, Athena und dem ganzen griechisch-römischen Götterhimmel. Noch die monotheistische Religion des jüdisch-christlichen Gottes. Schon überhaupt gar nicht die spätere synkretistische islamische Religion mit ihrem Gott Allah. Alle Religion ist ein aus der Frühphase der Menschheit gewachsenes Kulturbewusstsein, in dem den Menschen noch keine rationalen Denkmethoden zur Verfügung standen, um die Wirklichkeit der Natur objektiv als Natur verstehen zu können.

Religion ist deshalb in unserer Zeit heute ein Relikt frühkultureller Menschheitsentwicklung, die statische Anbindung des Bewusstseins an eine geistige Hinterwelt. In dieser Hinterwelt hat selbstverständlich auch das Abendland vielschichtig seine Wurzeln. Auch das Abendland ist in seinen Anfängen natürlich in frühkulturellen Entwicklungsphasen groß geworden und deshalb gerade in seinen Ursprüngen und vielschichtigen Entwicklungen vielschichtig religiös geprägt.

Das ureigene Wesen aber des Abendlandes ist der gezielte rationale Ausstieg der Vernunft aus der Religion! Gerade auf den Hintergrund der vielschichtigen religiösen Einflüsse ist gegenüber allen anderen Kulturen die Überwindung der Religionen das Typische des Abendlandes. Religion haben alle Kulturen. Eine Jahrtausende alte Kette der rationalen Vernunft, die sich aus der Religion immer wieder neu freigesetzt hat, gibt es in dieser geistesgeschichtlichen Breite und Tiefe ausschließlich im Abendland. Allein in dieser geistigen Befreiung von der Religion generell liegt die exklusive Eigenart des Abendlandes.

Ausgangpunkt dieses kritischen Ausstiegs aus der Religion war von Anfang an und immer wieder der Entwurf eines nicht religiösen Naturverständnisses. Darauf zielt im Abendland seit 2600 Jahren alles kritische Denken. Das bedeutet: Schon in der frühen Antike hat sich im Abendland contra religionem eine säkulare Wissenschaft der Natur entwickelt, natürlich zunächst in allerersten Anfängen gegen alle religiösen Widerstände. Wenn sich heute die Naturwissenschaften in globaler Breite darstellen, dann lassen sich deren langen Entwicklungsprozesse in ihren geistigen Hauptlinien direkt auf die frühen Anfänge in der abendländischen Antike zurückführen. Deshalb ist das Abendland nicht allein die Initialkultur der säkularen Wissenschaft der Natur, sondern weit darüber hinaus auch die Initialkultur aller Naturwissenschaften. In diese rationalen Vernunftleistung liegt das ureigene unverwechselbare Wesen des Abendlandes.

(5) Der Beginn der abendländischen Wissenschaft von der Natur

Der Beginn dieser kritischen Vernunft im Abendland ist aufs engste verbunden mit dem Namen

Thales, der erste Naturphilos

Thales, der erste Naturphilos

Thales aus Milet (-625 bis -547) in Ionien, in Kleinasien. Ionien gehörte damals zum antiken Griechenland. Um -600 war Milet ein bedeutender Hafen und Handelsplatz, zentrale Kulturstadt der ionischen Griechen. Feinde waren den Ioniern ständig die Perser, die vom Osten her auch Griechenland erobern wollten. So stand Milet wiederholt unter persischer Oberhoheit. Dies bedeutete zugleich kulturelle Einflüsse, die den Ioniern geistige Impulse brachten und sie für Erneuerungen öffneten.

Ionien und das griechische Festland

Bei einer Mondfinsternis um das Jahre -586 gerieten die Bürger von Milet in Panik. Sie fürchteten einen erneuten Ansturm der Perser und sahen die Mondfinsternis als böses Vorzeichen der Götter gegen ihre Stadt. Thales versuchte, seine Mitbürger mit der Erklärung zu beruhigen, dass eine Mondfinsternis eine ganz natürliche Sache sei, gar nichts mit den Göttern zu tun habe. Ja, man könne eine Mondfinsternis sogar vorausberechnen. Für das nächste Jahr habe er eine totale Sonnenfinsternis für den 28. Mai -585 vorausberechnet. Also brauchten sie sich auch davor keine Sorgen zu machen. Doch seine Mitbürger haben ihn ausgelacht und verhöhnt. Wie wolle er den Willen der Götter auf den Tag genau vorausberechnen? Das sei nichts als anmaßende Gotteslästerung. Dennoch: Wie von Thales vorausberechnet trat die Sonnenfinsternis exakt am 28. Mai -585 ein.

Diese Geschichte ist berühmt. Sie erzählt das erste Beispiel im Abendland für eine wissenschaftliche Naturbetrachtung gegen religiöse Spekulation. Eine großartige Leistung der autonomen menschlichen Vernunft. Unvorhersehbar war dabei allerdings die Reaktion der Bürger. Sie waren entsetzt, total aufgebracht gegen Thales. Wie konnte ein Mensch solche Macht über die Götter haben? Wie konnten sich die Götter eine derartige Bevormundung gefallen lassen? Die Welt geriet ihnen ins Wanken, die Welt ihrer Götter. Aus Zorn und Angst vor der Rache der Götter haben sie Thales aus der Stadt vertrieben.

Spätere Generationen haben Thales dann den Weisen genannt und zu einem der ehrwürdigen Männer Griechenlands erkoren. Thales galt ihnen dabei als der erste große Aufklärer der Vernunft. Aufklärung der Vernunft als Ausstieg aus der religiösen Welt:

Dieses Beispiel steht für den Beginn des Vernunftdenkens im Abendland. Thales damalige Leistung wird noch heute als Beginn der abendländischen Wissenschaft gewürdigt. Denn ideengeschichtlich bedeutet es den Einstieg in die moderne Naturwissenschaft überhaupt.

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Autor: Paul Schulz