Buch 07: Das natürliche Ende auch des Menschen

Die Lehre vom Leben und Tod

Diskurs 07.01


Einführende Gedanken
zu Geburt und Leben, zum Sterben und Tod. Das Nichts

(1) … Ja, aber, der Tod.

Seine Frau war gestorben. Jetzt saßen wir in seiner Wohnung zusammen, um über die Trauerfeier zu sprechen. Er war sehr verschlossen, tief getroffen durch ihren Tod. Er machte den Eindruck, als würde er am liebsten schweigen.

– Wie haben Sie Ihre Frau kennengelernt, fragte ich. Diese Frage zuerst löst die Blockaden der Trauer. Sie führt weg von dem schmerzhaften Augenblick zurück in freundliche Erinnerung.

– Ach damals, sagte er und hielt inne, als ließe er erst einmal die Bilder aus der Vergangenheit hochkommen. Dann fing er an zu erzählen, immer freudiger, immer gelöster. Die Erstbegegnung von Verliebten hat immer einen faszinierenden Reiz selbst nach Jahrzehnten. Sie ist intim gelebtes Leben.

Viel später im Gespräch, als wir in unseren Gedanken schon sehr vertraut miteinander waren, fragte ich:
Wusste Ihre Frau, dass sie sterben würde?

Eigentlich wohl nicht, sagte er, zumindest nicht jetzt zu diesem Zeitpunkt. Sie kämpfte dagegen an.

Haben sie mal über den Tod gesprochen, ich meine, haben sie ihre Gedanken über den Tod ausgetauscht? Fast 50 Jahre gemeinsames Leben, da spricht man doch eigentlich über alles. Spricht man da nicht auch über den Tod?

– Wir wenigstens haben nicht über den Tod gesprochen, sagte er. Jetzt wundert mich das  selber. Es 1**) wäre doch eigentlich selbstverständlich gewesen. Aber man wartet wohl darauf, dass  der andere etwas dazu sagt. Plötzlich ist es dann zu spät.

– Sie waren bis zum Ende am Sterbebett Ihrer Frau. Sie hat gespürt, dass sie in Ihrer Liebe geborgen war. Sie haben ihre Hand gehalten bis sie ganz ruhig eingeschlafen ist.

– Diese Nähe in den Tod hinein war für mich ein großes Glück, weil ich ihr bis zuletzt nahe sein konnte, sagte er. Nach all dem Leiden: Der Tod war sanft wie ein Freund.

– Was erwarten Sie vom Tod? Haben Sie eine Vorstellung? fragte ich.

– Ich hoffe, dass ich meine Frau wiedersehen werde, sagte er.

– Wie soll das gehen, fragte ich. Dann müssten Sie doch an eine Kraft glauben, die das Wiedersehen ermöglicht, denn ohne jemanden, der die Möglichkeit schafft, geht das ja nicht einfach so. Sie müssten also an Gott glauben. Glauben Sie an Gott?

– An Gott glaube ich eigentlich nicht, sagte er. Aber an etwas Göttliches glaube ich schon, zumindest meine Frau glaubte wohl daran.

– Genau wissen Sie das nicht? fragte ich.

– Das erschien mir bisher alles so weit weg, sagte er. Aber eigentlich müsste man doch daran glauben. Denn allein das Leben hier auf Erden, das wäre ja doch ziemlich sinnlos.

– Ist das so? fragte ich. Hatten Sie in Ihrem Leben nicht alle Chancen? Hatten Sie nicht sehr viel gemeinsame Zeit, Ihr Leben zu gestalten, Ihrem Leben Sinn zu geben? War das denn wirklich alles so sinnlos. Ihre Arbeit. Ihre Kinder. Ihr gemeinsames Leben mit Ihrer Frau? Freunde, Reisen, menschliche Nähe.

– Ja, aber der Tod, sagte er. Jetzt bin ich doch ganz alleine. Wir haben immer alles gemeinsam gemacht. Wir waren immer zusammen. Ich weiß gar nicht, was ich jetzt machen soll. Alles ist jetzt so leer …

(2) Totale Diesseitigkeit.

Im Menschen steckt eine tiefe Angst vor der Natur und damit vor der Dimension des Diesseitigen. Ihm hat sich ein urgründiges Wissen eingegraben um die radikale Bedrohung aus der Natur und durch die Natur. Natur vernichtet, was ihren Naturgewalten im Weg steht. Natur zerstört, was nicht überlebensfähig ist. Natur opfert alles, was sich der Dynamik und der Veränderung nicht anpasst. Natur ist feindlich. Natur ist ohne Gnade. Natur tötet.

Der Mensch teilt die Urangst um sein Überleben mit den Tieren. Der Kampf ums Überleben ist ihnen gemeinsam ein Kampf gegen die Übermacht der Natur, ein sich Behaupten gegen den Zwang des Untergangs. Nur das Tier reagierte darauf schon immer und immer noch instinktiv und damit im Ausweichen sehr begrenzt. Der Mensch hat dagegen mit seinem wachsenden Verstand alles daran gesetzt, sein Dasein immer dauerhafter stabil zu planen und zu gestalten.

Dabei ist dem Menschen schon seit seiner frühen Kulturgeschichte der Tod als radikalste Bedrohung der Natur bewusst gegenwärtig. Doch noch heute steht der geistig viel höher entwickelte Mensch vor dem gleichen ungelösten Problem Tod. Mit ihm erfährt er heute wie damals seine natürlichen Grenzen, seine Ohnmacht, sein absolutes Ende.

Zwar ist es den Menschen in seinen vielfältigen Bemühungen gelungen, dieses Ende weiter und weiter hinauszuschieben. Die moderne Medizin hat das Leben nicht nur in der Zahl der Jahre verlängert, sondern auch in der Lebensqualität ganz wesentlich verbessert. Dennoch ist der Tod geblieben. Eigentlich ist die Urangst vor dem Tod sogar noch verschärft, denn trotz der Erfolge fürs Leben ist der Tod weiterhin ungebrochen das Wesen der Natur. Der Mensch weiß klarer als je: Diesseits ist der Tod.

Im Kontra dazu: Leben nach dem Tod

Fast alle Religionen lösen das Problem der menschlichen Angst vor der Natur und damit vor dem Diesseitigen mit dem Auszug aus dem Diesseits ins Jenseits. Die Religionen gehen mit dem Menschen auf die Flucht aus und vor der Natur in eine andere Welt außerhalb, wo sie vor den Bedrohungen des Diesseitigen ein für allemal geschützt sind. Ebenso bieten die Religionen den jenseitigen Himmel wie einen Schutzraum an, in dem der Mensch letztlich frei ist vor dem Zugriff des Diesseitigen. Im Jenseits ist für sie der Tod ausgeschlossen. Das Jenseits ist ihnen ewiges Leben pur.

Die Religionen versprechen den Menschen auf Zukunft hin das Jenseits als ihre eigentliche Heimat, als ihre zukünftige unantastbare Seinsqualität. Vom Transzendenten her, vom Göttlichen außerhalb, betont die Religion daher immer erneut, dass der Mensch eben schon jetzt nicht Natur ist, sondern in der Ebenbildlichkeit Gottes ein aus dem übernatürlichen Prinzip bestimmtes Wesen, supranatural1. Er ist deshalb prädestiniert für das Jenseits, wesenhaft auf Gott bezogen.

Von daher versuchen – nicht nur – religiöse Menschen auch heute noch immer, das Diesseitige auf das Jenseits hin offen zu halten. Sie kämpfen etwa gegen die Evolutionstheorie, zumindest dagegen, dass der Mensch direkt in diese Naturkette eingegliedert wird. Sie wollen nicht eingepasst werden in die Reihe des natürlichen Werdens. Sie wollen eigenständig von oben drauf gesetzt sein als Krone der Schöpfung, eben als supranaturale Existenz. Schon damit wären sie dem totalen Diesseitigen als in seinem ureigenen Wesen als Nur-Natur entkommen. Solange der Mensch aus der Determination allen Vergänglichen heraus will, wird es immer Religion geben, denn ihm bleibt als einziger Ausweg nur die Religion. Der Mensch glaubt dabei contra naturam gegen die Natur quia absurdum est – obwohl es unvernünftig, absurd ist. Er riskiert sein religiöses Selbstverständnis sogar gegen die säkulare Rationalität der Naturwissenschaften.

Dagegen wenden sich die Naturwissenschaften ohne jede Einschränkung der Natur zu und damit der totalen Diesseitigkeit:

– Sie fassen das Diesseits als eine in sich geschlossene Einheit und lassen dabei von ihrem immanenten Forschungsansatz her keinen religiösen Ausweg ins Transzendente.

– Sie beziehen den Menschen selbst ein in das in sich geschlossene Diesseits, in die Natur und machen ihn gerade auch als Subjekt in allen seinen Lebensäußerungen zum Objekt ihrer Forschung.

– Sie bewerten dabei alles religiöse Erkennen und Glauben als Ausdruck seiner psychosomatischen Bedürfnisse und seines menschlichen Denkens und damit als abhängig von seinem Gehirn. Sie definieren damit seine materielle Konditionierung als Grundlage seines Geistes.

Von daher ergibt sich wissenschaftlich ein Bild in sich geschlossener Diesseitigkeit. Ernst Haeckel, Schüler von Charles Darwin und wie dieser ein renommierter Biologe, schrieb 1899 sein berühmtes Buch DIE WELTRÄTSEL2 gleichsam als Gruß an das 20. Jahrhundert. In ihm entwickelte er das System eines totalen Monismus3, die Welt als ein einziges in sich geschlossenes Sein, als nur diesseitige Welt. In dieses diesseitige Sein gehört auch die Welt des menschlichen Geistes mit allen seinen Gedanken, mit seinen Befürchtungen und Hoffnungen, auch mit seiner Angst vor dem Streben und dem Tod, auch all seine Theorien, der Endgültigkeit des natürlichen Todes zu entkommen.

Dieses monistisch-holistische Wirklichkeitsbild steht in enger Beziehung zur Naturphilosophie, die eine lange eigene Tradition hat von Heraklit über Descartes und Spinoza bis hin zu Haeckel und schließlich zu vielen neuzeitlichen säkularen Denkern heute. Ihr säkulares Naturdenken5 stellt sich dar als eine menschlich-weltliche Lebensphilosophie ohne Gott, mit dem Menschen als Wesen der totalen Diesseitigkeit. Das bedingt ein rein natürliches Menschenbild, in dem auch die geistigen und soziokulturellen Phänomene des Menschseins rein naturbedingt zu erklären sind, auch der Tod ohne Gott und ohne Flucht ins Transzendente. Von daher: Der Tod ist ein ganz natürliche Ende auch des Menschen für immer.

(3) Geburt und Leben. So lange ich lebe, ist mein ICH das Entscheidende.

Das Geborenwerden zeigt, dass sich der Mensch am Anfang seines Lebens seiner selbst nicht bewusst ist. Das Neugeborene kann sein Umfeld noch nicht in Einzelheiten unterscheiden und deshalb seine Eindrücke noch nicht dauerhaft aufnehmen. Dazu ist sein Gedächtnis auch noch nicht ausreichend ausgebildet, der Neo-Cortex, sein kognitives Gehirn, muss sich erst noch weiter entwickeln. Erst in späterer Folge wird sich der Mensch zunehmend seines Ichs bewusst und erkennt dann immer differenzierter seine Umwelt und darin sich selbst.

Bewusste Erinnerungen des Menschen an seine eigenen Anfänge, an seine Geburt, gibt es deshalb nicht. Spätere Erinnerungen des Menschen an seine kindliche Frühphase reichen frühestens zurück in die Altersstufe von 24 bis 30 Monate. Sie ergeben sich aber nur fragmentarisch innerhalb ansonsten großer Gedächtnislücken. Anfang fehlen dem jungen Denkhirn noch Begriffe zur Verknüpfung der Einzelheiten. Nicht verarbeitete frühkindliche Erfahrungen versinken ins Unterbewusste. Erst in begrifflicher Verknüpfung setzen sich Eindrücke im Bewusstsein so fest, dass sie später von dort abgerufen werden können.

Immer aber ist und bleibt das eigene Ich das Medium der Lebenserfahrung. Der Mensch erkennt das Wirkliche nur in den Erfahrungen seines Ich, nämlich durch seine persönlichen Wahrnehmungen. Die vollziehen sich ausschließlich über seine fünf Sinne. Seine Sinneswahrnehmungen vermitteln ihm das von außen Kommende allerdings nur äußerst subjektiv. Freude oder Leiden eines anderen Menschen etwa erfährt der Mensch überhaupt nur assoziativ, das heißt, das Ich verbindet dabei die Beobachtungen am anderen mit den Erinnerungen an eigene Empfindungen, die es selbst so oder ähnlich gemacht hat und sucht so nachzuvollziehen, was mit dem anderen passiert. In dieser Abgleichung liegt die erkenntnisbedingte Subjektivität des Ich-Bewusstseins.

Zugleich aber ist das Ich im Wir vernetzt mit Menschen, die um das Ich herum sind, nicht nur in einem einzigen Wir, sondern mit vielen, völlig unterschiedlichen Wir:

– Das Wir mit den eigenen Eltern. – Das Wir mit den Geschwistern. – Das Wir mit den Kita-Kindern. – Das Wir mit den Peergroups auf der Straße. – Das Wir mit den Mitschülern und Lehrern einer Klasse. – Das Wir mit den Azubis oder mit den Kommilitonen. –          Das Wir mit den Arbeitskollegen. – Das Wir mit der Sportmannschaft. – Das Wir mit den Fans eines Fußballvereins. – Das Wir der ersten Liebe. – Das Wir der Ehepartner. –  Das Wir der eigenen Familie. – Das Wir der vertrauten Freunde. – Das Wir der Nachbarschaft. – Das Wir der Kegelgruppe oder des Skatvereins. – Das Wir der Hehler, der Mitwisser oder der Verbrechergang. – Das Wir der Parteifreunde. – Das Wir der Glaubensgemeinschaft. – Das Wir der Nation, des Volkes, des Kulturkreises.

Eine große Zahl verschiedener Wir also. Darüber hinaus müssten aus einer konkret gelebten Biographie noch viele andere Wir-Gruppen hinzugefügt werden, mit denen das jeweilige Ich verbunden war und ist. Die Wir-Gruppen haben alle die gleiche Grundstruktur, aus denen sie sich aber unterschiedlich definieren:

– Jede Wir-Gruppe ist exklusiv durch die Zusammensetzung ihrer Teilnehmer. Ihr Wir kann aus nur zwei oder mehreren Menschen bestehen, aber auch aus einer riesigen Zahl von Menschen. Dennoch ist jeder Wir-Kreis in sich geschlossen, ein spezieller Bereich, in dem Strukturen gelten, die mit den Strukturen anderer Gruppierungen überhaupt nichts zu tun haben.

– Jede Wir-Gruppe hat ihre eigene Zielsetzung. Diese Zielsetzung schmiedet die eigentliche Wir-Identität. Krass: Eine Verbrecherbande hat eine andere Zielsetzung als eine Polizeisonderkommission. Aus der Zielsetzung leiten sich die jeweilige Wir-Identitäten ab, ihre Aufgaben und ihre Handlungsstrategien. Nur wenn die Zielsetzung in der Wir-Gruppe benannt und akzeptiert ist, kann das Wir erfolgreich sein. Indifferentes Zielbewusstsein scheitert. Jeder macht, was er will, bedeutet: Kein erfolgreiches Wir.

– Jede Wir-Gruppe besitzt Regeln und Strategien für sich selbst und für den Umgang mit anderen Gruppen, um ihre Identitätsziele zu erreichen. Zum Beispiel spielt eine Fußballmannschaft Fußball, um zu gewinnen. Es wäre völlig kontraproduktiv, wenn das Ich als Mitspieler dann ständig gegen das eigene Tor rennt und dort Tore schießt. Die Gruppe ist nur erfolgreich, wenn ihre eigenen Wir-Regeln von jedem dazugehörenden Ich eingehalten werden.

– Jede Gruppe muss deshalb an das teilnehmende Ich Anforderung stellen, die ein positives Verhalten auf das Wir, auf seine Zielsetzung und Aufgabenstellung hin sichern. Der Grad notwendiger Zuordnung des Ich zum Wir ist eine Herausforderung an die Eigenständigkeit des Ich. Es kann bei zu großen Zwängen oder Verweigerungen schnell zur Auflösung des Ich mit dem Wir kommen.

– Positiv vermittelt jede Gruppe dem Ich ihre eigenen Ziele und deren Umsetzung als Sinn. Das Ich erhält damit eine Fülle von sozialen Impulsen, die ihm als Einzelnen für sein eigenes Leben wesentlichen Antrieb geben. Darüber hinaus ergibt sich durch die verschiedenartigen Kontakte auch mit den anderen Gruppen und ihren jeweiligen Profilen ein höchst komplexes Interaktionsfeld, ein Kommunikationsnetz mit einer Vielzahl von positiven und negativen sozialen Billardeffekten. Diese Wir-Vernetzungen im Zusammen- oder Gegeneinanderwirken binden das Ich in völlig unterschiedlicher Weise in immer neue Situationen und Anforderungen mit anderen Menschen. In ihnen definiert sich der Mensch als ein soziales Wesen.

Die allermeisten Wir vergehen, das meint, nahezu alle Wir-Verbindungen lösen sich für den Einzelnen mit der Zeit auf. Zurück bleibt immer, solange es lebt, das Ich. Das überlebende Ich überdauert das einzelne Wir, ja, die meisten Wir.

Die Loslösung des Ich von einem Wir ist meist ein schwieriger Prozess. Dabei sind die Schwierigkeiten der Trennung immer wieder völlig anders:

Aus manchem Wir löst sich das Ich überraschend leicht, gar mit Fröhlichkeit, etwa bei einer Abschlussfeier zum Abitur oder beim Umzug aus guter Nachbarschaft. Dabei ist schon auch Wehmut in der Erinnerung an vieles gemeinsam Erlebte und darüber, dass eine gemeinsame Zeit nun zu Ende ist. Aber es bleiben reichlich neue Perspektiven, das Leben geht flott weiter.

Aus anderen Wir-Gruppen kann sich das Ich nur mit äußerstem Stress befreien, mit Selbstbehauptungskämpfen und Zukunftssorgen, etwa beim Verlust des Arbeitsplatzes oder bei der Scheidung vom Ehepartner mit endlosen Streitigkeiten. Hoffnungen und Chancen gehen zu Bruch. Ein Lebensabschnitt scheitert. Der Leidensdruck lähmt alles.

Aus den schwergewichtigen Wir-Verbindungen heraus bewirken Trennungen meist tiefe Trauer, gar Verzweiflung: Letzter Abschied von Vater oder Mutter, vom Ehepartner. Am schrecklichsten der Abschied vom eigenen Kind. Etwas Unwiderrufliches verändert das Leben, zerstört Lebensläufe, schafft schicksalhafte Betroffenheit.

Das Ich erfährt sich im Abschied ganz persönlich selbst, denn mit jedem Abschied aus welcher Situation auch immer, bleibt das Ich mit sich allein zurück. Die Franzosen sagen sehr sensibel: Chaque au revoir est un petit mort – jeder Abschied ist ein kleiner Tod. Ein  Stück gelebtes Leben verschwindet. Die eigene Lebenszeit ist bedenklich vorangeschritten. Ich muss weiter.

Besonders die schwergewichtigen Abschiede erfordern ein starkes Ich – nicht zugunsten eines Wir, sondern zugunsten des Ich! Dabei liegt die Notwendigkeit für ein starkes Ich in der Situation des zurückbleibenden Ich selber, denn in den schweren Abschieden erweist sich das Ich sehr oft als schon lange chronisch schwach durch die Tatsache, dass es sich zu rückhaltlos auf das Wir eingelassen hat. Das Ich erliegt oft der Gefahr, sich im Wir zu verlieren und sich dabei selbst zu weit aufzugeben.

Die Gefahr des Verlustes des Ich im Wir zeigt sich besonders häufig in der Ehe: Traditionell führt das Wir in der Ehe leicht zur fast völligen Selbstaufgabe des Ich, zumindest zur Zurücknahme der persönlichen Interessen oft bis zur Unkenntlichkeit eigenständiger und eigenwilliger Bedürfnisse. Immer noch verliert vor allem die Frau ihr eigenständiges Ich in der Unterordnung unter den Mann und darüber hinaus in der Familie durch die Dominanz der Kinder und des Haushalts.

Bei einer Trennung oder beim Tod ihres Mannes ist die Frau deshalb oft hilflos, weil sie in vielen Dingen viel zu sehr unter der Dominanz des Mannes stand. Eigenes durfte oder musste sie nie. Bis auf den engen Tätigkeitsrahmen in ihrer Ehe und Familie wurde sie in ihrem eigenständigen Ich fast lebensfern gehalten, konnte nur über das Wir agieren. Je unselbstständiger sie war, desto hilfloser trauert und leidet sie unter dem Verlust ihres Mannes, weil sie keine Übung (mehr) hat, sich auf ihr eigenständiges Ich zurückzuziehen und aus ihrem eigenen Ich heraus zu leben. Sie ist nicht in ihrem Selbst trainiert.

Diese Gefahr des Verlustes des eigenen Ich gilt auch in den Wir-Verbindungen mit den Eltern oder mit den Kindern und überall da, wo die Partner sehr dominant sind. Das Ich ist dann schnell Opfer des Wir. Doch nur ganz selten macht ein Selbstopfer des Ich in einem Wir einen Sinn, zum Beispiel bei der Rettung eines Kindes oder in letzter Zuwendung zweier Liebender füreinander, also in ganz intimer Nähe. Ansonsten aber darf  Priorität nie im Wir liegen, sondern immer nur im Ich.

Die Zeit der Trauer über den Verlust des intimen Partners, etwa über den Tod des Ehepartners, ist die Zeit der Rückgewinnung des verlorenen Ich. Trauer ist die Arbeit des Ich an sich selber:

–   Ich muss wieder stark werden, wie ich es vor dem Wir war.

–   Ich muss wieder die Kraft gewinnen, ich selber zu sein.

–   Ich muss wieder ja sagen, denn mein Leben geht weiter.

Entscheidend dafür ist:
Ich muss das durch den Tod zerstörte Wir historisieren.
Ich muss hinter dem vergangenen Wir einen Punkt setzen mit der klaren Feststellung,
dass das Wir vor dem Punkt jetzt zu Ende ist.

In dem Augenblick, wo ich in der Lage bin, diesen Schlusspunkt klar und deutlich zu setzen, in dem Augenblick beginnt der Neuanfang meines Ich, mein neues eigen gewolltes und eigen verantwortetes Leben. Die Trauer ist dann bei mir selber ans Ziel gekommen, zu mir selber. Die Trauer verlässt mich, sobald sie mich befreit hat für mein neues Leben. Selbstverständlich spielt darin die Erinnerung an das vergangene Wir weiterhin eine große Rolle. Aber sie dominiert nicht mehr das neu begonnene Leben meines Ich.

Diese Konsequenz des Punktsetzens gilt für jeden ernsthaften Abschied. Nicht zuletzt auch bei dem eigenen Abschied, den ich von mir aus für andere setze. Ich selbst muss dann bereit sein, den anderen in seinem Ich so freizusetzen, dass er, frei von mir, unverletzt weiterleben kann. Ich muss ihn so ins Leben zurückgeben, dass er als eigenständiges Ich zu leben vermag!

Das aber bedingt schon im gelebten Wir die Achtung vor dem Eigenwillen des anderen Ich. Es liegt in der Verantwortung gegenüber dem andere, dass ich ihm Raum lasse für sein Ich, für seine Wünschen und Bedürfnisse. Ich muss ihm die Möglichkeit lassen, dass er Dinge so machen kann, wie er sie machen will. Der andere hat das Recht auf sein Ich. Das Wir mit mir garantiert das Recht des anderen auf sein Ich.

(4) Sterben und Tod

Ich stelle fest:

So lange ich lebe,            ist der Tod nicht da.
Sobald der Tod da ist,     lebe ich nicht mehr.

Daraus schließe ich:

Mein Leben hat mit dem Tod nichts zu tun.
Der Tod hat mit meinem Leben nichts zu tun.

Diese Feststellung geht zurück auf den antiken Denker Epikur, einen der großen griechischen Philosophen aus dem minus dritten Jahrhundert. In seiner freiheitlichen Lebenserfahrung hat er den Tod als das natürliche Ende des Lebens immer fest im Blick gehabt. Das zeigt sein Rat an seinen jungen Freund Menoikeus: Ferner gewöhne Dich an den Gedanken, dass der Tod für uns ein Nichts ist …6. Epikurs oben zitierte nüchterne Definition über Leben und Tod gibt uns die Möglichkeit, zunächst einige elementare Sachfragen zu klären.

Erstens:
Leben und Tod sind zwei völlig verschiedene Dinge.

Es gibt für das objektive Erkennen keinen erfahrbaren inneren Zusammenhang zwischen Leben und Tod. Leben und Tod stehen diametral gegeneinander, denn:

– Alles was für das Leben gilt, gilt für den Tod nicht:
Organisches Werden. Empfindungen, Reaktionsfähigkeit und Bewegung. Fortpflanzung. Geistige und soziale Strukturen. Zu Ende gehen und sich Auflösen.

– Alles was für den Tod gilt, gilt für das Leben nicht:
Stillstand von materieller Bewegung. Aufgehobensein geistiger und sozialer Strukturen. Zeitloser Raum. Unbegrenzte Dauer. Gestaltlose Leere.

Zweitens
Auch Sterben und Tod sind zwei völlig verschiedene Dinge.

– Denn das Sterben ist der Schlussteil des Lebens. Alles Sterben ist immer noch Leben bis zum allerletzten Verlöschen.

– Der Tod ist dagegen – in einer ersten vorläufigen Definition –  nach dem Leben. Er erscheint als ein völlig eigenständiger Raum, als eine völlig eigenmächtige Dimension.

Deshalb ist die Angst vor dem Sterben etwas völlig anderes als die Angst vor dem Tod

Drittens:
Das Sterben ist der Schlussteil des Lebens.

Das Sterben beschreibt das Leben in seinem zu Ende gehen. Sterben ist so, als ginge die Flamme einer Kerze aus. Die Flamme ist plötzlich erloschen, einfach weg. Sie ist nicht irgendwo anders, auch nicht in einem anderen Raum. Sie ist einfach zu Ende, nicht mehr da.

Das Sterben ist wie das Erlöschen der Flamme. Der Mensch ist nicht mehr da, nie wieder da. Das Sterben ist für den Menschen das Zuendegehen wie in der Natur alles Leben endgültig zu Ende geht. Sterben ist etwas ganz Natürliches.

Viertens:
Angst vor dem Sterben.

Diese Angst ist deshalb primär Angst vor negativen Erfahrungen, die uns aus unserem Leben bestens bekannt sind: Angst vor Schmerzen. Angst vor endlosem Dahinsiechen. Angst vor Abschiednehmen. Angst vor unerledigten Verpflichtungen. Angst um Menschen. Angst vor Allein-, Hilflos-, Verlassensein. Angst vor ungewisser Zukunft, vor dem Unbekannten, vor der Vergänglichkeit. Das Sterben ist somit immer noch etwas höchst Soziales, höchst Menschliches.

Es vollzieht sich im Wir der Menschen, die aktiv um den Sterbenden herum sind. Das Sterben liegt in der Obhut von Ärzten, in der Hilfe von Pflegepersonal, in der Betreuung von Hospizhelfern, von Pfarrern und Priestern, von Menschen, die für ein humanes Sterben kämpfen. Am wichtigsten sind die liebsten Menschen und Freunde, die dem Sterbenden Nähe und Zuwendung zeigen. Der wesentliche Trost des Sterbenden in seiner Grenzsituation liegt in der Treue der ihn liebenden Menschen zu ihm.

Fünftens
Der Tod ist nach dem Leben.

Kein Mensch hatte je irgendeine Erfahrung mit dem Tod selbst. Niemand hat den Tod erlebt. Es gibt keinerlei Erfahrungswerte mit der Dimension des Todes. Es kann keine geben, denn wir können ihn persönlich nicht wahrnehmen.

Von Zeit zu Zeit gibt es Sensationsmeldungen wie: Rückkehr aus dem Tod, aufgemacht in Form medizinischer Sachberichte. Ein derartiger Hit waren vor vierzig Jahren die Bücher von Raymond A. Moody, etwa LEBEN NACH DEM TOD7. Menschen berichten, wie sie aus dem Tod zurückgeholt wurden und dabei das Totsein in Lichterscheinungen, in Raumtransformationen und Stimmensphären erfuhren – Bilderbögen durchweg schöner Empfindungen.

Die schönen Empfindungen mögen real gewesen sein. Doch jede Rückkehr aus dem Tod war immer Rückkehr aus dem allerletzten Winkel des Lebens, wieder angefachte Flamme des noch nicht völlig verglommenen Dochtes. Die Erfahrungen passierten immer noch im erlöschenden Raum des Gehirns, waren noch immer Leben diesseits. Nicht jenseits davon. Insofern waren es Empfindungen des Sterbenden, nicht des Toten. Der Tod, so bestätigt die moderne Gehirnforschung heute den alten Epikur, steht jenseits  aller Empfindungen. Deshalb: Es gibt vom Tod keine Rückkehr und damit keinerlei evidente Erfahrungswerte aus dem Raum des Todes und über den Raum des Todes.

Sechstens:
Der menschliche Tod ist den Hinterbliebenen nur in einem sozialen Ereignis fassbar, nämlich 2**) als endgültiges Nicht-mehr-Dasein einer lebenden Ich-Person.

Der Tod stellt sich damit nur im Wir-Bezug innerhalb eines gelebten Lebensraumes dar und ist von daher definierbar als das Gegenteil von dem, was der Mensch als Leben erfährt, nämlich als Nichtleben. Allerdings ist das Nichtleben dem Denken größer zu fassen als das Leben selbst, denn das Nichtleben war schon immer vor dem Leben und wird nach dem Leben immer sein.

Jeder Totenkult ist im Blick auf den Tod selbst nur soziale Konvention der Trauernden, dient nur zur Humanisierung der Betroffenheit der Hinterbliebenen. Auch er beinhaltet in sich keinerlei Öffnung zum Totsein an sich.

Siebtens:
Die Angst vor dem Tod als Angst, das Leben zu verpassen

Memento mori – bedenke, dass du sterben musst bedeutet zuerst: Also lebe! Das Wissen um den Tod verschärft den Willen zum Leben. Die Erfahrung der Todesnähe ist zugleich Ermutigung für das Leben, das noch möglich vor einem liegt. Der Schritt heraus aus der Todesnähe ist der motivierende Schritt ins Diesseitige: Du kannst noch wieder zurück ins Leben. Du kannst noch einmal alle Chancen wahrnehmen. Kaufe die Zeit aus! Hol alles aus dem Leben heraus, was dir lebenswert erscheint, denn Leben ist hier – nur hier – dein einziges Leben. Carpe diem – nutze den Tag!

sub specie aeternitatisim Bewusstsein des Todes. Voll leben im Bewusstsein des Todes bedeutet, den Tod als endgültiges Ende uneingeschränkt anzuerkennen und damit umzugehen lernen. So bewusst zu leben heißt zu sterben lernen, heißt, im Leben den Tod immer im Blick zu haben. Wer so bewusst lebt, kann bewusst sterben.

Achtens:
Die Angst vor dem Tod als Hölle

Alle Spekulationen über den Tod als Hölle sagen überhaupt nichts über den Tod, sondern sagen nur etwas über die Menschen.

– Zum einen über die Bösartigkeit speziell von religiösen Menschen, die andere mit Strafen und Qualen bis über das Leben hinaus verfolgen wollen. Das Ausmaß der gepredigten Höllenqualen ist eine einzige Menschenschande. Dazu gehört speziell auch Dante Alighieri mit seiner GÖTTLICHEN KOMMÖDIE8, in der er mit seinen Höllen- und Fegefeuervisionen durch die Zeiten hindurch aus perversem Menschenhass Gläubige und Ungläubige gequält hat, ein geistiger Terrorist wie alle Religiösen, die mit der Hölle Andersdenkende bis in alle Ewigkeit verdammen.

– Zum anderen darüber, dass sich die Menschen derartig verfolgen lassen. Wo immer heute bei uns in der freien Gesellschaft Religionskonfessionen und ihre Amtsträger in Liturgien oder sonstigen frommen Texten Menschen Höllenstrafen nach dem Sterben androhen, ist das ein erfüllter Tatbestand von erklärter Lebensbedrohung. Der freiheitlich demokratische Staat hat Religionen zur Rechenschaft zu ziehen, die derartige Androhungen in einem säkularen Rechtsstaat in ihrem Programm haben. Ihnen ist als terroristische Vereinigung der Prozess zu machen. Derartige Übergriffe auf das Individuum sind im Geiste der Menschen- und Grundrechte prinzipiell verboten und zu bestrafen. Sie verstoßen gegen die Menschenwürde und damit gegen Paragraph 1 jeder demokratischen Verfassung und der Menschenrechtserklärungen9.

Neuntens:
Die Angst vor dem Tod als das Ende des Ich

Die Angst vor dem Tod erzeugt die Hoffnung auf ein ewiges Leben. Der Mensch ist getrieben von dem religiösen Größenwahn, unsterblich zu sein. Diese Hoffnung beschreibt die Unfähigkeit des Menschen, sich mit dem Tod selbst als Ich loslassen zu können. Er glaubt deshalb als rettende Hoffnung an den Tod als Beginn eines ewigen Weiterlebens. Auch diese Hoffnung sagt überhaupt nichts über das Faktum Tod, sondern nur etwas über den Menschen und seine Angst vor seiner Sterblichkeit. Sie ist auf den Tod hin reine Spekulation.

(5) Das Nichts

Über den Tod als Raum oder Dimension an sich wissen wir überhaupt gar nichts. Kein Mensch hat darüber auch nur eine einzige letztgültige Information. Der Tod an sich bleibt deshalb undefinierbar. Es bleiben nur rationale Abgrenzungen.

Eigentlich verbietet sich sogar, von dem Tod nur als nach dem Leben zu sprechen. Einsichtig ist vielmehr, den Tod auch als ständig gegenwärtige Verneinung und Aufhebung des Lebens zu denken, gleichsam als Zustand eines allumfassenden Anti-Seins, das jederzeit gegenwärtige und damit mögliche Nichts überall da, wo das Leben existiert und sofort aufhören kann.

3* Doch der Tod ist deshalb auch nicht nur der Moment des Lebensendes. Der Tod ist nach jedem Lebensende zugleich der Raum des Nichts, die Dimension des Nichts, gestaltlos, bewegungslos, zeitlos, in allem konträr zum Leben. Entsprechend gibt es kein evidentes Anzeichen für eine Fortsetzung des Lebens im Raum des Todes selbst. Der Tod als Raum des Nichts ist weder ein Raum des bestraften Lebens (Fegefeuer oder Hölle), noch ist er gar ein Raum des belohnten Lebens (Ewiges-bei-Gott-Sein).

Diese nihilistische Abgrenzung steht allen religiösen Spekulationen konträr entgegen, im Verständnis des Seins auch absolut kompromisslos. Um die innere Gegensätzlichkeit besser zu verstehen, stellen wir die Essentials beider gegensätzlicher Argumentationsketten direkt gegeneinander:

– unter (6) die christlich-religiös-theologische Vorstellung, ausgehend also von dem Axiom: Gott ist.

-unter (7) die nihilistisch-atheistische Vorstellung, ausgehend also von dem Axiom: Gott ist nich

(6) Im Kontra dazu:
Ewiges Leben. Die theologische Todesspekulation des Apostel Paulus.

Die meisten Religionen, speziell aber die christliche Theologie, verlegen die entscheidenden Existentialien des Lebens in die Zeit des Todes, also in eine Zeit nach dem Leben auf Erden. Paulus ist es gewesen, der die Idee eines ewigen Lebens nach dem Tod in einer umfassenden Theorie ausgearbeitet hat10. Wir entwickeln diesen paulinischen Ansatz in sieben Punkten:

1. Paulus verkündigt seine Gewissheit als die christliche Gewissheit auf ein unbegrenztes Weiterleben nach dem Tod als ein ewiges bei Gott Sein in einem Zustand göttlicher Vollkommenheit.

2. Die entscheidende These und damit die Faszination seiner Verkündigung des Weiterlebens nach den Tod liegt in der Ich-Identität: Das Ich vor dem Tod ist identisch mit dem Ich nach dem Tod. Paulus vor dem Tod ist Paulus nach dem Tod. Die Individualität der geistigen Persönlichkeit bleibt durch den Tod hindurch erhalten.

3. Die Begründung für die Wahrung der Ich-Identität durch den Tod hindurch gibt Paulus mit dem Christus-Ereignis, dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi: Christus ist einen biologischen Tod gestorben und aus eben diesem Tod auferstanden. Das Faktum, dass Christus vor dem Tod der gleiche war wie Christus nach dem Tod ist somit die Basis für das Dass seiner Auferstehung vom Tod und für sein Leben nach dem Tod.

Paulus setzt infolge die menschliche Existenz parallel mit dem Christusereignis: So wie wir mit Christus sterben, so werden wir mit Christus auferstehen. Im Vollzug der Imago Christi, in der Ebenbildlichkeit des Menschen mit Jesus Christus vor seinem und nach seinem Tod liegt die These der Auferstehung des Ich und damit die Garantie für das persönliche ewige Leben begründet.

4. Das Ich des ewigen Lebens ist das durch Jesus Christus erlöste Ich, der wahre gerechte Mensch. Die Zueignung der Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, liegt in der Taufe11. Der getaufte Mensch gilt vor Gott als gerecht und lebt damit in einem Gott wohlgefälligen Seinszustand. Paulus nennt diesen  Menschen den durch Gottes Gnade gerechtfertigten Menschen.

5. Das Heil des ewigen Lebens hat seine absolute Voraussetzung in Gott und seinem Heilswillen zugunsten des Menschen. Gott allein ist die alles entscheidende treibende Kraft bei der Rettung des Menschen aus der Welt der Sünde und des Todes ins ewige Leben.

6. In welcher Form wird das Ich im Todesraum ewig existieren können? Sehr nervös hatten die Christen in Korinth per Brief an Paulus diese Frage gestellt offenbar in der Absicht, mit diesem Problem die ganze Theorie des ewigen Lebens platzen zu lassen.

Hierauf antwortet ihnen Paulus aus dem theologischen Axiom (Punkt 5) heraus sehr gelassen: Der allmächtige Schöpfergott, der die irdischen Körper geschaffen hat, wird auch die Schöpferkraft haben, die himmlischen Leiber zu schaffen12.

Zugleich liefert Paulus den Korinthern dabei mit einem biologischen Vergleich den Beweis nach für den Tod als Beginn der Auferstehung: So wie das Weizenkorn in die Erde gelegt wird und sterben muss, um neu zum Leben zu kommen, so muss der Mensch sterben, um auferstehen und ewig leben zu können13.

7. Theologisch hat die Gewissheit des ewigen Lebens ihre  Grundbedingung in dem festen Glauben an Jesu Auferstehung.

Psychologisch hat sie ihren Grund in der Angst des Menschen vor dem Tod als dem endgültigen Ende des Ich. Paulus kann nicht loslassen. Er ist getrieben von der Angst, als Ich nicht mehr zu sein. Sein spekulativer Glaube an das unsterbliche persönliche Ich im ewigen Leben setzt ihn von dieser Angst frei.

(7) Die Todestheorie im atheistischen Denkansatz. Das Nichts.

1. Der Mensch steht als ein individueller Teil der Natur in der Evolution allen natürlichen Seins. Innerhalb dieser Evolution nimmt er nicht nur als Mensch eine Spitzenstellung ein, die ihn gegenüber allen anderen hervorhebt. Er nimmt auch als Ich eine Individualstellung gegenüber allen anderen Menschen ein. Jedes Ich ist einzig.

2. Das Prinzip der Evolution, dem implizit auch der Mensch ohne Ausnahme unterliegt, ist das physikalische Gesetz der Zunahme der Komplexität. Der Mensch unterliegt als Gattung und als Individuum in seinem Leben dem Prinzip des Werdens. und damit der Höherstufung materieller und geistiger Existenz.

3. In gleicher Weise unterliegt der Mensch auch dem physikalischen Gesetz des Vergehens, nämlich der Auflösung singulärer komplexer Ordnungen. Singuläre komplexe Ordnungen haben keine dauernde, schon gar nicht ewig dauernde Stabilität und Lebensdauer. Sie sind gleichsam nur Momentzustände in einer sich ständig wandelnden Struktur. Spätestens auf dem Höhepunkt der Entwicklung bricht die Ordnung zusammen, löst sich auf, erlischt, stirbt.

Der Mensch steht nicht außerhalb dieser Kette, sondern voll innerhalb dieser Kette. Der Mensch mit seinem geistigen Vermögen als Höchstzustand der Komplexität unterliegt also im strengen Sinne dem Gesetz des Werdens und des Vergehens gemäß physikalischer Komplexität. Der Ordnungszustand des menschlichen Ich wird spätestens mit Erreichen seines altersmäßigen Höchstzustand wieder aufgelöst und zerfällt dabei zurück in Entropie (höchstmöglicher Unordnungszustand) der Materie. Dabei werden alle gelebten Ich-Strukturen für immer aufgelöst.

4. Der natürlich Lebensraum des Menschen reicht von seiner Zeugung über seine Geburt bis zu seinem Tod als seinem Erlöschen für immer. Nur die Zeit zwischen Geburt und Tod ist der Lebensraum des Individuums. In dieser Lebenszeit hat der Mensch die Möglichkeit, sein Dasein zu entfalten.

Beim Leben weiß der Mensch um sein Sterben und um seinen Tod. Bewusst zu leben bedeutet auch, den Tod anzuerkennen und sterben zu lernen, das Ende abzusehen.

5. Der Tod als Zusammenbruch hebt alle Ordnungsstrukturen und damit die Konditionen allen individuellen Daseins völlig auf. Der Tod ist eine endgültige Auflösung aller individuellen Konditionierungen, nicht nur der rein körperlichen, sondern auch der geistigen und aktiv sozialen.

Der Tod ist auch das Ende aller Mühen und Leiden des gelebten Lebens. Der Tod ein Freund. Denn letztlich hat der Tod damit auch etwas Gnädiges: Er erlöst da, wo endloses Leiden droht. Er beendet da, wo keine Hilfe mehr möglich ist. Er schließt ab, wo das Leben ganz einfach aufgebraucht ist.

6. Der Tod als Auflösung und damit als endgültiges Nichtmehrexistieren bedeutet für das Nach dem Leben auf Erden einen absoluten Nichtzustand. Eine wie immer geartete Weiterführung des Lebens im Raum des Todes gibt es nicht. Der Tod ist ein absolutes Nichtmehrsein.

7. Der Atheist kann den Tod als Nichtmehrsein verstehen als das absolute Nichts. Das Nichts als ein Freisein von allen Mühen und Leiden des irdischen Lebens. Das Nichts ohne Angst vor Verfolgungen und Bestrafungen für das gelebte Leben. Das Nichts ohne irgendwelche fremdbestimmten Dienstleistungen für eine ewige göttliche Herrschaft.

Das Nichts als Befreitsein, als ewige Befriedung.


Zusammenfassung in drei Thesen

These 1: Die Menschen leben in einer tiefen Angst vor der Natur und dem Diesseitigen. Natur vernichtet, was ihren Naturgewalten im Weg steht. Natur zerstört, was nicht überlebensfähig ist. Natur opfert alles, was sich der Veränderung nicht anpasst. Natur ist feindlich. Natur ist ohne Gnade. Natur tötet.

Das Bedrohtsein durch die Natur ist eine Urerfahrung des sich bewusstwerdenden Menschen seit früher Kulturgeschichte, der Kampf ums Überleben. Der Mensch teilt die Urangst um sein Überleben mit den Tieren. Auch jedem Menschen steht der Tod bevor als die radikalste Bedrohung und das Ende seiner Existenz.

These 2: Nahezu alle Religionen lösen das Problem der menschlichen Angst vor der Natur mit dem Auszug aus dem Diesseits in ein wie immer geartetes Jenseits. Sie gehen mit den Menschen auf die Flucht aus und vor der diesseitigen Welt in eine andere Welt jenseits, wo sie vor den Bedrohungen des Diesseitigen ein für allemal geschützt sein sollen: Die Religionen versprechen den Menschen auf Zukunft das Jenseits als ihre eigentliche Heimat, als ihre zukünftige unantastbare Seinsqualität.

Dagegen wendet sich atheistisch-naturwissenschaftliches Denken ohne jede Einschränkung der Natur zu und damit der totalen Diesseitigkeit. Die Naturwissenschaften beziehen den Menschen selbst voll in die Natur und das Diesseits ein und machen ihn gerade auch als Subjekt zum Objekt ihrer weltlichen Forschungen. Ihre naturwissenschaftlichen Erkenntnisse schließen das Sterben und den endgültigen Tod auch des Menschen in das Diesseits ein ohne transzendenten Fluchtweg.

These 3: Das Leben des Menschen liegt ausschließlich vor dem Tod. Der Mensch kann und muss alles aus seinem Leben vor dem Tod herausholen. Die Geburt zeigt, dass der Mensch am Anfang seines Lebens sich seiner selbst nicht bewusst ist. Erst indem sich das menschliche Gehirn vervollkommnet, wird sich der Mensch zunehmend seiner Umwelt immer differenzierter bewusst und erkennt darin sein eigenes Selbst. Das eigene Ich ist der absolute Mittelpunkt jeder menschlichen Existenz. Der Mensch wird nur ein autonomes Individuum, wenn er als selbstverantwortliches Ich sein Leben verstehen lernt und von daher handelt.

Die Naturwissenschaften haben es bisher nicht geschafft, den Tod als das naturbedingte Ende des Lebens abzuschaffen. Es ist der modernen Medizin aber gelungen, viele Lebensbedrohungen abzuwehren und die Lebensqualität bis ins hohe Alter zu verbessern, ja, sogar den Tod hinauszuschieben und damit die potentielle Lebensfähigkeit auch konkret wesentlich zu verlängern. Doch dabei geht es nur um ein zeitliches Aussetzen des Sterbens. Eine Aufhebung des Todes ist damit nicht gegeben. Der Tod ist ein absolut unaufhebbares Faktum der Natur.

Generelle Schlussfolgerungen

Sterben und Tod sind zwei völlig verschiedene Dinge:

– Sterben ist der Schlussteil des Lebens. Alles Sterben ist immer noch Leben bis zum allerletzten Verlöschen. Angst vor dem Sterben ist deshalb primär Angst vor negativen Erfahrungen, die dem Menschen aus dem Leben bekannt sind, wie Angst vor Schmerzen, vor Hilflosigkeit und Verlassensein. Der wesentliche Trost des Sterbenden liegt in der Treue der ihn liebenden und begleitenden Menschen, die in seiner Grenzsituation des aus dem Leben Gehens zu ihm halten.

– Der Tod ist nach dem Leben. Er ist eine völlig eigenständige Dimension, die absolute Verneinung und Aufhebung des Lebens, der Zustand des umfassenden Nichts. Das Nichts definiert die abgeschlossene Auflösung des generellen und des individuellen Seins, den Zusammenbruch auch aller Ich-Strukturen. Der Tod ist dieses Nichts. Der Atheist kann sein Nichtmehrsein verstehen als ein Aufgehen in das Nichts. Der Mensch ist darin völlig frei von allen Leiden des irdischen Lebens, von allen Fremdbestimmungen. Es gibt keine Höllenqualen und auch keine himmlischen Dienstleistungen bei Gott. Der Tod als das Nichts ist ein Befreitsein von jeglicher Fremdbestimmung im Bösen wie im Guten, eine ewige Befriedung.

2. Die allermeisten Wir vergehen.

Das Ich ist mit anderen Menschen in vielen unterschiedlichen Wir vernetzt. Diese Wir-Gruppen, in denen das Ich lebt, sind gegeneinander völlig unterschiedlich, vom Wir einer intimen Zweierbeziehung über das Wir der Sportmannschaft bis bin zum Wir der Glaubens- und Volksgemeinschaft. Diese Wir-Vernetzungen im Zusammen- oder Gegeneinanderwirken verbinden das Ich in vielfältiger Weise in immer neuen Situationen und Anforderungen mit anderen Menschen. In ihnen erfährt sich der Mensch als ein soziales Wesen. Viele Wir-Verbindungen lösen sich für den Einzelnen mit der Zeit auf. Das Ich erfährt sich in jedem Abschied ganz persönlich selbst, denn mit jedem Abschied aus welchem Wir auch immer, bleibt das Ich mit sich allein zurück.

Die Losdösung des Ich vom Wir ist meistens schwierig, vor allem dann, wenn es um Trennung von Menschen geht, denen das Ich besonders nahestand oder mit dem das Ich eine lange Lebenszeit verbracht hat. Das bewirkt tiefe Trauer im Ich. In einem solchem Abschied, etwa durch die Ehescheidung oder durch den Tod des Ehepartners, erweist sich das Ich sehr oft dann besonders geschwächt, wenn es sich im Leben zu rückhaltlos auf dass Wir eingelassen hat. Das Ich erliegt zu leicht der Gefahr, sich im Wir zu verlieren und sein Selbst zu sehr aufzugeben. Deshalb ist der endgültige Abschied aus einem engen Wir oft ein eigener dramatischer Lebensverlust.

3. Die Zeit der Trauer ist die Zeit der Rückgewinnung eines eigenen starken Ich.

Zurück bleibt immer, solange es lebt, das Ich. Das Ich erfährt sich in jedem Abschied persönlich selbst. Ein Stück gelebtes Leben ist zu Ende. Das Leben geht weiter. Das überlebende Ich muss weiter.

Trauer ist die Arbeit des Ich an sich selber für das weiter:
–   Ich muss wieder stark werden, wie ich es vor dem Wir war.
–   Ich muss wieder die Kraft gewinnen, ich selber zu sein.
–   Ich muss wieder deutlich Ich sagen, damit mein Leben weitergeht.

Entscheidend ist dabei: Ich muss das durch den Tod vergangene Wir historisieren. Ich muss hinter das vergangenen Wir einen Punkt setzen mit der klaren Feststellung, dass das Wir vor dem Punkt jetzt zu Ende ist. In dem Augenblick, in dem ich dazu in der Lage bin, diesen Schlusspunkt klar und deutlich zu setzen, in dem Augenblick beginnt – erfahrungsgemäß – der Neuanfang meines eigenen Lebens. Selbstverständlich spielt dann die Erinnerung an das vergangene Wir weiterhin eine große Rolle. Aber sie dominiert nicht mehr das neu beginnende Leben meines Ich. Die Trauer ist dann ans Ziel gekommen: Ich bin angekommen in meinem neuen, eigenen Leben. Ich kann noch einmal mein Leben, mein eigenes Leben, starten.

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Autor: Paul Schulz

  1. Supranatural bedeutet übernatürlich. Der Begriff wurde in der evangelischen Theologie des 18. und 19. Jahrhunderts gezielt benutzt, um gegen den Rationalismus ein übernatürliches Wesen, das die Welt bestimmt, zu behaupten.
  2. Erich Haeckel, DIE WELTRÄTSEL, Leipzig  1919 / 11. verbesserte Auflage, Stuttgart 1984.
  3. Als Gegensatz zum Dualismus, der ein Diesseits und ein Jenseits behauptet, sieht der Monismus alles Sein ausschließlich als Diesseits, als Immanenz. Siehe dazu Diskurs 01.15: Das monistische Weltbild.
  4. Deutsch (Erweiterte Neuausgabe), Hamburg 2002.
  5. Eine gute Einführung in die Naturphilosophie gibt der Band KLASSIKER DER NATURPHILOSOPHIE. VON DEN VORSOKRATIKERN BIS ZUR KOPENHAGENER SCHULE, Hg. Gernot Böhme, München 1989.
  6. Epikur, BRIEF AN MENOIKEUS. Epikurs Brief an seinen jungen Schüler Menoikeus fasst die epikurische Ethik in kurzer Form zusammen. In:
  7. Reinbek bei Hamburg 1977.
  8. Dante schrieb zwischen 1311 und 1321 seine berühmte DIVINA COMMEDIA – DIE GÖTTLICHE KOMÖDIE, gleichsam ein großes Gedicht in 100 Gesängen. Es ist mit seinen 14230 Versen in drei große Hauptteile geteilt. Teil 1: Das Inferno, die Hölle. Teil 2: Purgatorio, der Läuterungsberg. Teil 3: Paradiso, das Paradies. Der Leser wird wie bei einer Besichtigung durch alle drei Bereiche geführt und erlebt in expressiver Plastizität den Weg des sündigen Menschen von der Bestrafung über die Reinigung zur Erlösung. Besonders bösartig beschreibt Dante die Bestrafung von ihm gehasster Menschen in der Hölle. Dantes Höllenvisionen haben die Höllenpredigten der Kirche und damit die Ängste der Menschen vor dem Tod aufs Tiefste geprägt.
  9. UNO-CHARTA. 1. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948:

    Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.
    Artikel 3: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.
    Artikel 5: Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

    Es besteht keinerlei Zweifel, dass die säkulare Vernunft des Menschen ohne Gott ein humaneres Menschenrecht formuliert und weltweit anerkannt hat als alle Religionen zusammen mit ihrem über den Tod hinaus bestrafenden, rachsüchtigen Gottesrecht. Die Vorstellung, dass nach dem Tod unter der Herrschaft Gottes nicht einmal die grundlegenden Menschenrechte eingehalten werden, „schreit gen Himmel.“

  10. Die Idee eines Lebens nach dem Tod liegt allen echten Paulus-Briefen zugrunde. Zu verweisen ist auf den BRIEF AN DIE RÖMER Kapitel 6,3 – 11 und den 1. BRIEF AN DIE  KORINTHER, Kapitel 15.
  11. BRIEF AN DIE RÖMER, Kapitel 6,2 – 11.
  12. 1. BRIEF AN DIE  KORINTHER, Kapitel 15, 35 – 49.
  13. 1. BRIEF AN DIE KORINTHER, Kapitel 15,35 – 49. Das Ei zu Ostern hat in diesem Sinne wie das Weizenkorn eine tiefe Symbolik, denn aus dem Nichtleben (Ei) bricht neues Leben, das Alte muss vergehen, damit das Neue leben kann. Es wäre doch – statt Ostereier zu essen – ein starkes liturgisch-fröhliches Osterritual, aus 1000 Eiern 1000 Küken schlüpfen zu lassen, um die Auferstehung als Durchbruch aus dem Nichtleben zum neuen Leben zu symbolisieren.