Diskurs 10.917
Moser, Tilmann.
Gottesvergiftung (1976)
Inhalt
(1) Der Text aus GOTTESVERGIFTUNG (1976)
Tilmann Moser
Gottesvergiftung
Aus der Einleitung
Lieber Gott, ich möchte mit einem Fluch beginnen, oder mit einer Beschimpfung, die mir bald Erleichterung brächte. Eine Art innere Explosion müsste es werden, die dich zerfetzte. Ich wäre dann nicht nur dich, sondern auch diese elende Beschämung los, mich noch einmal mit dir beschäftigen zu müssen. Ich dachte, du wärst tot, begraben, zumindest aber vergessen oder wärst mir gleichgültig geworden.
Du warst eine solche Enttäuschung, ein solcher Betrug in meinem Leben, dass ich, als ich ganz allmählich und unter Qualen dahinterkam, dich links liegen ließ. Nicht, dass du als Person überlebt hättest, als ein fassliches Gegenüber. Du warst einst so fürchterlich real, neben Vater und Mutter die wichtigste Figur in meinem Kinderleben. Nein, obwohl es mich wundert, wie leicht es mir fällt, dich immer noch so direkt anreden zu können. Du hast überlebt in meiner seelischen Struktur: ganze Gewölbe, Verehrungsthrone, innere Zimmer- und Kapellenfluchten wurden für dich angelegt. Du haustest in mir wie ein Gift, von dem sich der Körper nie befreien konnte. Du wohntest in mir als mein Selbsthass. Du bist in mich eingezogen wie eine schwer heilbare Krankheit, als mein Körper und meine Seele klein waren. Beide wurden, entgegen einer freieren Bestimmung, zu deiner Wohnung gemacht, und ich war so stolz, dass du auch in mir kleinem Jungen Wohnung nehmen würdest. Es gab Jahre, wo ich dir meine Leben weihen wollte, wo zwischen dir und mir verhandelt wurde über einen Erwählungsvertrag. Du hast schon ganz früh mit meinem Größenwahn gespielt, ihn genährt, ihn an geheiligten Vorbildern gesteigert, die mir in deinem Namen vor Augen gehalten wurden. Ich habe dir so schreckliche Opfer gebracht an Fröhlichkeit, Freude an mir und anderen, und der Lohn war, neben der Steigerung des Erwählungsgefühls, oder dem Kampf darum, ein Quentchen Geliebtsein vielleicht, vielleicht ein Quentchen weniger Verdammnis.
Weil ich dich insgeheim hasste um der Demütigungen willen, die ich auf mich nahm, um dir zu gefallen, um deine Gunst zu erwerben oder auch nur um deine Ungunst zu vermeiden, musste ich dich immer mehr verehren, dich immer inständiger anflehen, an mir doch ein wenig Wohlgefallen zu finden. Und so bist du immer wirklicher geworden, einfach deshalb, weil du mich, aus vielen Gründen, nicht gemocht hast. Ich habe unter niemandem so gelitten in meinem Leben wie unter deiner mir aufgezwungenen Existenz. Indem ich dir zeige, wie du als Krankheit in mich eingezogen bist, und als Krankheit fast über mich hinweggewachsen wärst, hoffe ich, mich ein Stück weit von dir heilen zu können. Ich weiß, dass du in den Narben, falls ich dich aus mir vertreiben kann, bis zu meinem Tode hausen wirst. Sie werden mich beißen, du wirst mich noch mit Phantomschmerzen quälen, wenn du längst wegamputiert bist.
Aus dem Schlussteil
Solange ich gefleht habe: „Herr, wende dich nicht ab von mir!“ habe ich dich gestärkt in deiner erbarmungslosen Mächtigkeit, die nur zu mildern gewesen wäre durch die Unterwerfung: „Gott sei mir Sünder gnädig“. Später dachte ich, man habe mich eben einfach getäuscht wie so viele schon, und wandte mich ab. Aber du steckst, obwohl du bereits tot warst, als man mich mit dir vergiftete, in der inneren Struktur, und ich wusste lange keine Gegenwehr, wenn ich unbemerkt auf manche Institutionen Teile deiner Macht übertragen habe.
Dann dachte ich, ich kann nicht glücklich sein, wenn mich Menschen an leitender Stelle in diesen Institutionen ablehnen, und es überfiel mich etwas von jenem alten Gefühl der Verworfenheit. Manchmal fürchtete ich, du könntest mich so weit gebrochen haben, dass ich im Ernstfall, wenn es um einen Widerstand auf Leben und Tod gehen sollte, nehmen wir an gegen einen unmenschlichen, diktatorischen Feind, nicht fähig wäre, den absoluten Zorn oder die Ungnade des Mächtigen zu ertragen. Ich fürchtete, du hast mich korrupt gemacht, weil ich auf deine Zustimmung und Gnade nicht verzichten konnte.
Ich habe lange Zeit die Dimension der Verworfenheit zu verdrängen gesucht. Jetzt, da ich dir nachgehe in den Schlupfwinkeln meiner Seele, merke ich, ich kann erst frei sein, wenn ich es ganz ertragen kann, von dir nicht geliebt zu werden, selbst wenn es dich gar nicht gibt. Solange du in meiner inneren Struktur lebendig bist, werden auch Menschen die Macht haben, mich in jenes Gefühl des Verworfenseins zu stürzen.
Wenn du in mir wütest, kommt kein Trost von außen an mich heran. Es geht mir erst besser, wenn ich gegen dich wüte, und mit diesem Brief habe ich endlich ein Mittel in der Hand, deine Überfälle abzuwehren. Wenn ich mich nicht wehre, oder, was viel häufiger ist, wenn ich mich quäle, ohne zu merken, dass du mich quälst, oder mich von anderen quälen lasse, ohne zu merken, dass sie im Grunde deine Stimme und dein Gewicht annehmen, dann kannst du dich von meinem Selbsthass nähren, der doch nichts anderes ist als das Abbild deines Gesichts in mir oder deiner Fratze, die mir keiner rechtzeitig gedeutet hat. Aber so viel weiß ich heute: Es ist ungeheuerlich, wenn Eltern zum Zwecke der Erziehung mit dir paktieren, dich zu Hilfe nehmen bei der Einschüchterung wie bei der Vermittlung fiktiver Geborgenheit. Es ist genauso ungeheuerlich, wie wenn dich Herrschende zu Hilfe nehmen bei der Knechtung ihrer Völker. Aber deine Geschichte ist ja nichts anderes als die Geschichte deines Missbrauchs. Du bist ein Geschöpf des Missbrauchs menschlicher Gefühle. Ich weiß, das haben dir inzwischen viele gesagt, ich will es trotzdem noch einmal vor dich hinschleudern, weil ich weiß, wie viele gleich mir noch immer an dir leiden. Für viele meiner Generation bist du jedenfalls immer noch die Quelle gebrochener Unterwürfigkeit und quälender Selbstzweifel, auch wenn sie es schon gar nicht mehr wissen.
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(2) Der Autor: Tilmann Moser
Geboren 1938.
(3) Der Textort: GOTTESVERGIFTUNG
Geschrieben 1976.