Buch 14: Atheistische Spiritualität

Besinnliche Texte, Musik-, Bild- und Gedichtinterpretationen

Diskurs 14.25


Philosophische Meditation zu Brechts Jugendgedicht „Gegen Verführung“

(1) Lasst euch nicht verführen! Lasst euch nicht betrügen! Lasst euch nicht vertrösten!

Diese drei Zeilen aus dem Gedicht „Gegen Verführung“, platziert am Ende von „Bertolt Brechts Hauspostille“ (erstmals 1927), fassen wesentliche Ideen des Dichters auch aus späteren Etappen seines Schaffens zusammen. Für wie wichtig er es hielt, geht daraus hervor, dass er es nicht nur auch separat veröffentlicht hat unter dem Titel „Luzifers Nachtlied“, sondern dass er in der Einleitung empfiehlt, „jede Lektüre in der Hauspostille“ möge mit diesem Gedicht beschlossen werden.

Gegen Verführung

1.
Lasst euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr.
Der Tag steht in den Türen;
Ihr könnt schon Nachtwind spüren:
Es kommt kein Morgen mehr.

2.
Lasst euch nicht betrügen!
Das Leben wenig ist.
Schlürft es in schnellen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müsst!

3.
Lasst euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zuviel Zeit!
Lasst Moder den Erlösten!
Das Leben ist am größten:
Es steht nicht mehr bereit.

4.
Lasst euch nicht verführen
Zu Fron und Ausgezehr!
Was kann euch Angst noch rühren?
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.

Das Gedicht ist das Werk eines genialen jungen Mannes in seiner Sturm und Drang – Phase. Es wird aktuell bleiben, solange Menschen leben. Es wird Menschen ergreifen, solange sie Lyrik lesen und sich für Sprachkunstwerke begeistern können, die mit klaren, kernigen Worten ihre Leser unmittelbar anreden. Es enthält drei programmatische Warnungen, die auch die nachgeborenen Generationen stets gebrauchen können, drei Warnungen religions- und ideologiekritischen Inhalts, drei Warnungen in der Tradition der europäischen Aufklärung, geboren aus dem Geist der Nüchternheit, der Wachsamkeit, der Desillusionierung

Eine schockierende Botschaft, mit der da die Leser einer Hauspostille entlassen werden! Eine Postille ist ursprünglich ein frommes Predigt- und Andachtsbuch für den Gebrauch der Gläubigen. Berühmt war „Dr. Martin Luthers Haus- und Kirchenpostille“ mit erbaulichen Lektionen und Unterweisungen für das Alltagsleben der Christen. Hieran knüpft Brecht ironisch-parodistisch an, greift das Leitmotiv der Verführung auf und dreht es inhaltlich um.

Die christliche Religion warnte und warnt vor der Verführung durch die sündige Welt und ihre eitlen Lüste Bertolt Brecht warnt vor der Verführung zum Glauben an ein ewiges Leben nach dem Tode in einem imaginären Jenseits, in einer Scheinwelt.

„Lasst euch nicht verführen!
Es gibt keine Wiederkehr!
Ihr sterbt mit allen Tieren
Und es kommt nichts nachher.“

Das Gedicht erschöpft sich freilich nicht in atheistischer Religionskritik. Sein ideeller Gehalt ist reicher. Es warnt vor Illusionen jeglicher Art, Illusionen in religiöser und in nichtreligiöser Gestalt. Es ruft auf zur Wachsamkeit gegenüber frommem und unfrommem Wunschdenken. Es mahnt zur Nüchternheit gegenüber Luftschlössern aller Art. Das Gedicht formuliert den großen Zusammenhang von Leben und Tod, die Zusammengehörigkeit von Lebensgenuss und Lebenskampf. Es thematisiert die schwere Kunst, die Welt zu bestehen und wieder Abschied von ihr zu nehmen.

Die drei leitmotivischen Zeilen des Gedichts: „Lasst euch nicht verführen! Lasst euch nicht betrügen! Lasst euch nicht vertrösten!“ möchte ich mit den Worten umschreiben:

–       Lasst euch nicht verschaukeln! Lasst euch nicht verschleißen! Lasst euch nicht verheizen!
–       Lasst euch nichts vormachen und macht euch selber nichts vor!
–       Lasst euch nicht abspeisen, abfertigen, abtun, abkanzeln, abwürgen!

Wahrt eure eigenen Interessen, bedient euch eures eigenen Verstandes! Sagt Nein zu den Verirrungen des menschlichen Geistes, zu den Wahngebilden von Absolutheits- und Unfehlbarkeitsansprüchen! Entzieht euch zugleich den Zumutungen einer entgleisenden Moderne, die nicht mehr unterscheiden kann zwischen relativ und relativistisch, die hin und her pendelt zwischen Beliebigkeit und Dogmengläubigkeit. Alles dies ist freilich leichter gesagt als getan! Im kritischen Gedankenaustausch mit anderen kann diese schwierige Aufgabe eher gemeistert werden als im Alleingang, der freilich auch nicht völlig ausgeschlossen werden darf. Denn oft genug haben sich auch breit aufgestellte Konsense in der Politik wie in den Wissenschaften im Nachhinein als trügerisch erwiesen. Wahr und unwahr, richtig und falsch sind nicht gleichbedeutend mit Mehrheit und Minderheit.

Brechts Gedicht ermutigt uns zum Nein Sagen. Nein Sagen ist oft schwerer als Ja Sagen. Das Nein zu falschem Trost und zu falscher Führung – eben zum Vertrösten und zur Verführung – speist sich aus einem tiefen Ja zum Leben, zum Leben in seiner vergänglichen Schönheit. Über das Leben enthält das Gedicht zwei widersprüchliche, spannungsreiche Aussagen: „Das Leben ist am größten“, heißt es. Und „Das Leben wenig ist.“ In der Tat ist das Leben am größten. An der Rangordnung der Werte steht es an erster Stelle, weil von ihm alle weiteren Werte abhängen. Ohne Leben gibt es kein Streben nach Glück, Erfolg, Gerechtigkeit, ohne Leben ist es gegenstandslos, bodenlos, subjektlos.

Zugleich heißt es aber auch: Das Leben ist wenig. Es ist kurz, vom ersten Augenblick an von Gefahren bedroht, und zwar bereits im vorgeburtlichen Stadium. Es ist verletzbar, es ist krankheitsanfällig, es ist dem Verschleiß unterworfen, es ist sterblich. Brecht sagt nicht: das Leben ist sinnlos. Er sagt: das Leben ist wenig. In feierlichem Ton schärft er uns die Geringfügigkeit, die Flüchtigkeit, die Unwiederbringlichkeit des Lebens ein. Eben darin wurzelt zugleich seine Kostbarkeit „es steht nicht mehr bereit“ Wer sein Leben verfehlt, wer am Leben vorbei lebt, wer sein Leben beschädigt, muss wissen: „es gibt keine Wiederkehr“. Der Zeitpfeil ist unumkehrbar. Ein verständiges Ja zum Leben schließt das Ja zum Tode mit ein

(2) Weltanschauliche Summe der frühen Jahre

In dem Gedicht „Gegen Verführung“ zieht Brecht die weltanschauliche Summe seiner frühen Jahre in Augsburg und in München. Der heiße Atem eines jugendlich ungestümen Lebensgefühls durchweht die Zeilen. Dies wird besonders deutlich im Appell, der das Motiv des Lebensdurstes verwendet:

„Schlürft es in schnellen Zügen!
Es wird euch nicht genügen
Wenn ihr es lassen müsst!“

In der Ermunterung, das Leben „in schnellen Zügen“ zu schlürfen, stecken freilich inhaltliche und ästhetische Probleme. Aus dem Becher des Lebens kann nur geschlürft werden, wenn er gefüllt ist, wenn er mit genießbarem Inhalt gefüllt ist. Was ist mit jenen Menschen, deren Lebensbecher leer ist oder eher einem Leidenskelch gleicht? Macht es Sinn, Obdachlosen oder Arbeitslosen fröhlich zuzurufen: „Schlürft euer Leben in schnellen Zügen!“  Und wie steht es mit der Ermahnung, das Leben ausgerechnet in „schnellen Zügen“ zu schlürfen? Hier ist Brecht ein aufschlussreicher Bildbruch unterlaufen. Ein gutes Getränk, das geschlürft wird – sei es Tee oder Kaffee, sei es Wein oder Kognak –, wird nicht in schnellen Zügen geschlürft, sondern wird bedächtig getrunken und langsam, Schluck für Schluck, genossen. In einer späteren Textfassung hat Brecht klugerweise die „schnellen Züge“ in „volle Züge“ verwandelt.

Sicher gehören das schnelle Erfassen einer Situation und rasches, eingreifendes Handeln zur Lebenskunst. Aber ebenso unverzichtbar sind innere Ruhe, Gelassenheit, nicht zuletzt Langsamkeit, Langsamkeit vor allem beim Essen und Trinken. Soll das Leben geschlürft werden können, muss der Becher mit Trinkbarem gefüllt sein. Deshalb auch warnt Brecht vor „Fron und Ausgezehr“:

„Lasst euch nicht verführen
Zu Fron und Ausgezehr!“

(3) Einheit von Lebensgenuss und Lebenskampf

Das heißt: Lasst euch nicht ausbeuten und nicht schinden! Verfallt auch nicht der Selbstausbeutung und der Selbstquälerei! Im Arbeitsleben nicht, im Privatleben nicht, im politischen Leben nicht, im Leben für eine ehrenamtliche Tätigkeit nicht.. Gerade im Dienste humanistischer Ideale können Menschen verschlissen, im Engagement für edle Ziele schmählich ausgenutzt werden, wenn sie nicht auf sich selbst aufpassen. Brecht verbindet Lebensgenuss und Lebenskampf. Weder preist er den parasitären Lebensstil der oberen Zehntausend noch verharmlost er die Entbehrungen der unteren Millionen. Um genießen zu können, müssen Menschen arbeiten und kämpfen. Um arbeiten und kämpfen zu können, bedürfen sie des Genusses und freilich auch der Disziplin.

Dabei wird –global gesehen – die Mehrzahl der Menschen zu „Fron und Ausgezehr“  weniger ideologisch verführt als brutal dazu verurteilt. Die stumme Gewalt der Verhältnisse verdammt sie dazu. Wir werden heute Zeugen des weltgeschichtlichen Vorgangs, dass sie es sich immer weniger gefallen lassen. Ein gerechter Anteil an den materiellen und ideellen Lebensmitteln, an den Glücksgütern dieses Lebens steht auch ihnen zu. Wer wird es ihnen verargen, die Botschaft dieses Gedichtes auf sich und ihre Lage zu beziehen?

„Lasst euch nicht vertrösten!
Ihr habt nicht zu viel Zeit!“

Die materialistische Philosophie, dass uns nur dies eine Leben gegeben ist, macht freilich auch die bittere, die tragische Dimension der menschlichen Existenz bewusst. Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden. Versäumtes kann nie völlig nachgeholt, Verweigertes kann nie komplett erstattet werden. Dies ist der mit Blut und Tränen getränkte Wurzelboden der Religion und erklärt ihre lange Herrschaft mit Hilfe von Vertröstungen und Heilsversprechungen in einem erträumten Jenseits ohne Leid.

In Brechts Gedicht „Gegen Verführung“ ist gelegentlich Nihilismus hineingeheimnisst worden. Aber das ist eine Fehldeutung. Die beiden letzten Zeilen

„Ihr sterbt mit allen Tieren
und es kommt nichts nachher.“

betonen – gut naturalistisch – die Gleichheit von Tier und Mensch im Sterben und formulieren die Endgültigkeit des individuellen Todes. Nihilistisch erscheint das nur aus der Perspektive einer religiösen Heils- oder Unheilserwartung, die mit ewigen Wonnen im Himmel und ewigen Qualen in der Hölle rechnet. Ein solches Szenario schied aber für Brecht aus, seit er im Lateinunterricht im Augsburger Gymnasium die von Epikur inspirierte Poesie des Horaz kennen gelernt hatte. Von Horaz stammt das geflügelte Wort „Carpe diem!“, „Nutze den Tag!“ Denn es könnte jeweils dein letzter sein. Vorausgesetzt ist dabei implizit, dass der Tod endgültig ist, weil das Individuum sich gemäß der epikureischen Atomistik mit Körper und Seele vollständig in seine kleinsten Bestandteile auflöst, was von der Biologie unserer Tage minutiös bestätigt wird.

Bemerkenswert bei alledem ist der Sachverhalt, dass es in der Bibel, im Alten Testament, im Buch des Predigers Salomo, auf hebräisch auch Kohelet genannt, eine kleine Passage gibt, die fast wörtlich das sagt, was Brecht sagt. Ich zitiere in der Übersetzung Martin Luthers:

„Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh: wie dies stirbt, so stirbt auch er, und haben alle einerlei Odem, und der Mensch hat nichts mehr als das Vieh; denn es ist alles eitel.“  (Kapitel 3, Vers 19) Brecht war zwar bekanntermaßen ein guter Bibelkenner. Ob er aber bereits als junger Mann diesen illusionslosen jüdischen Weisheitstext aus hellenistischer Zeit kannte, muss offen bleiben.

Der Tod in der Deutung dieses Gedichtes hat seine Schrecken verloren. „Was kann euch Angst noch rühren? Lasst Moder den Erlösten!“ Wer tot ist, ist tot, mausetot, aufgelöst in seine kleinsten Teile, insofern für immer erlöst von allen Widrigkeiten, die mit dem Leben auch verbunden sind. Die religiöse Drohkulisse, die Jahrtausende lang Leben und Sterben der Menschen verdüstert hat, in dieser Tradition antiker Aufklärung, zu der auch Brecht gehört, ist sie nicht existent. Dass wir in der Tat sterben wie alle Lebewesen vor uns, neben uns und nach uns, ist trostlos und tröstlich zugleich. Trostlos, weil jedes Leben als Fragment endet. Tröstlich, weil dieses Schicksal ausnahmslos alle und jeden betrifft, fundiert im großen Gesetz der Evolution. Majestät des Todes und Demokratie des Todes reichen sich die Hand.

Brechts Gedicht „Gegen Verführung“  ist ein Meisterwerk deutscher Poesie. Es lässt sich auch nutzbar machen als künstlerischer Beitrag zu einer weltlich-humanistischen Abschiedskultur, die sich unter unseren Augen entwickelt. Das Gedicht empfiehlt Lebenslust ohne Lebenslüge. Es rät zu Lebensfreude, vereint mit Lebensernst und Melancholie. Wir sollten es auswendig lernen. Damit würden wir uns den Text eines großen Dichters geistig einverleiben, der trotz mancher (nicht zu beschönigender) politischer Irrtümer und Irrwege den Nachgeborenen Bleibendes mitzuteilen hat.

______________________

Autor: Joachim Kahl