Diskurs 14.26
Bildmeditation zu Dürers Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel“
Inhalt
(1) Das Lächeln des Ritters. Ein Mann sucht seinen Weg durch die Welt
Ich möchte mit Ihnen eins meiner Lieblingsbilder betrachten, es Ihnen zeigen, es befragen und behutsam aufschließen: Albrecht Dürers Kupferstich „Ritter, Tod und Teufel“ aus dem Jahre 1513, ein Hauptwerk Dürers, ein Hauptwerk der deutschen Kunst überhaupt, ein klassisches Meisterwerk von überzeitlichem Rang. Dürer selbst nannte es nur „Der Reuter“, der Ritter. Erst seit 1778 trägt es den uns heute vertrauten Titel „Ritter, Tod und Teufel“. Wir wollen uns gemeinsam in das Bild versenken und daraus langsam einen Erkenntnisgewinn sammeln. Wir werden spüren, welchen wesentlichen Beitrag die schönen Künste leisten können zur schwersten aller Künste, der Lebenskunst.
Schauen Sie bitte genau hin: Der Ritter lächelt tatsächlich. Was Dürer sichtbar macht, möchte ich hörbar und verstehbar machen, in Worte fassen, auf Begriffe bringen. Ich beginne damit, dass ich das Bild nach Aufbau und in Einzelheiten beschreibe und dann auch, in einer ersten Annäherung, Lichtführung und Gesamtkomposition mit einbeziehe. Das Bild ist wie eine Bühne aufgebaut, deren Kulissen steil nach hinten ansteigen.
Im Vordergrund sehen wir die Hauptfigur, den namenlosen Ritter in einer prächtigen, filigran verzierten Rüstung mit Schwert und geschmückter Lanze. Er reitet auf einem Pferd von massiger Körperlichkeit. Der Hengst ist ebenfalls reich geschmückt. Ein Eichenbüschel zwischen den gestutzten Ohren, das Zaumzeug, die Satteldecke, vor allem das metallisch schimmernde Fell zeugen von einer sorgfältigen Pflege des edlen Tieres. Der pralle Muskelstrang am Hals lässt elementare, animalische Kraft erkennen. Der sinnliche Reiz einer schönen Oberfläche ist mit Raffinement gestaltet. Unten springt behände ein Hund, der treue Kamerad und Weggefährte des Ritters. Beschützend und begleitend nimmt er teil an Tempo und Marschrichtung seines Herrn.
Unmittelbar hinter dem Ritter, gleichsam auf Tuchfühlung mit ihm und seinem Ross, beginnt die zweite Bildebene mit zwei merkwürdigen, befremdlichen, phantastischen, irrealen Gestalten. Niemand ist ihnen je in der Wirklichkeit begegnet, doch es gibt sie überall: links der Tod mit der Sanduhr in der Hand, rechts der Teufel mit Kralle und Bocksfuß, aus verschiedenen Tieren zusammen gefügt. Sie rahmen den Ritter gleichsam ein. Seine Existenz ist eine Existenz zwischen Tod und Teufel. Der Tod kommt ihm von vorne entgegen, der Teufel schleicht sich hinterrücks heran.
Die dritte Bildebene beginnt hinter den beiden phantastischen Figuren als eine kantige, schartige, gratige Felswand mit kahlen Ästen und Baumstümpfen, die sich bis hoch an den oberen Bildrand erstrecken. Die dunkle Felswand vermittelt den Eindruck des Engen und Gedrängten. Dieser Eindruck wird allerdings auf der vierten Bildebene wieder eingeschränkt, durch die Ortschaft auf dem Berge im Hintergrund ganz oben in der Bildmitte. Zwei spitz nach unten zusammen laufende Felswände geben den Blick frei ins Weite und in die Höhe auf eine turmbewehrte Stadt. Zu der Stadt führt eine Straße empor. Vor allem verweist das aufgeklappte Visier des Ritters wie eine Pfeilspitze auf diesen Ort menschlichen Zusammenlebens.
Zur Lichtführung
Der Ritter reitet aus der Dunkelheit dem Licht entgegen. Den Teufel als Macht der Finsternis lässt er hinter sich zurück. Umso heller erstrahlt freilich der Tod in seinem weißen Hemd! Die Lichtquelle befindet sich außerhalb des Bildes links oben. Von dort fällt helles Licht auf die geborstene Felswand, auf den Tod und auf die Vorderseite der Reittiere. Ist es die Morgenröte einer neuen Zeit, die hier erstrahlt? Jedenfalls ist es kein verklärendes, kein beschönigendes Licht, das hier hereinfällt. Es zeigt den geborstenen Felsen als Inbegriff unwirtlicher, karger Natur. Es zeigt den Tod, dessen Hemdenbrust die größten Helligkeitswerte des ganzen Bildes hat.
Der Tod ist der eigentliche Dialogpartner des Ritters. Zwischen beiden vollzieht sich das entscheidende innere Zwiegespräch des Bildes. Zwischen beiden verläuft die Mittelachse des Bildes. Über ihren Häuptern ragt die Ortschaft empor. Das Beziehungsgefüge Ritter – Tod – Stadt auf dem Berge bildet den ideellen Kern des Bildes, seine Sinnmitte. Hier befindet sich das dichteste Bedeutungsfeld des Kunstwerkes.
An der Lichtführung und an den Lichtreflexen können wir auch etwas von Dürers virtuoser Kunstfertigkeit erkennen. Die feinsten Abstufungen von Licht und Schatten hat er lediglich durch lauter schwarze Striche und Strichlein erzeugt, die er zuvor mit einem Grabstichel in eine Kupferplatte eingeritzt hatte. Dürers Kunst kommt in der Tat von Können. Seine Kupferstiche kennen nicht die harten Kontraste von Schwarz und Weiß der Holzschnitttechnik, sondern viele Zwischentöne, mannigfache Grauwerte. Seine Bildsprache ist dadurch zu differenziertesten Aussagen fähig. Sie verlangt freilich genaues Hinschauen.
Betrachten wir erneut und vertieft Einzelmotive und die Gesamtkomposition des Bildes. Der Ritter, die sinnstiftende Hauptgestalt, ist auf dem Wege in die Welt und durch die Welt. Er sitzt fest im Sattel und zeigt eine aufrechte, mannhafte Haltung. Mit kraftvollem Griff hält er die Zügel, so dass das Pferd ihn dorthin trägt, wohin er es lenkt. Dadurch hat er teil an der gesunden, sinnlichen Lebenskraft des Tieres, ohne mit ihm zum Kentauren zu verschmelzen. Er ist und bleibt Subjekt des Geschehens, ein gestandenes Mannsbild in der Mitte des Lebens, wie das Stundenglas mit dem halb durchgeronnenen Sand ausweist. Auch vom Teufel lässt er sich nicht aufhalten. Er selbst bestimmt Richtung und Tempo der Reise. Im Augenblick lässt er das Pferd im Kreuzwechselschritt traben.
Der Ritter ist gepanzert, weil er so besser die Stöße und Beschädigungen abfängt, die das Leben zufügt. Obwohl schwer bewaffnet mit Lanze und Schwert, wirkt er allerdings nicht kriegerisch oder gar draufgängerisch. Es sieht nicht so aus, als würde er beide Geräte je einsetzen. Alles Aggressive fehlt ihm. Der Rüsthaken vorne am Brustharnisch, in den die Lanze zum Angriff eingelegt wird, ist leer – eine nicht unwichtige Einzelheit von symbolischer Qualität, mit Bedacht platziert auf die Mittelachse des Bildes. Die Lanze hat keine militärische Funktion mehr. Über die Schulter gelegt und geschmückt mit einem Fuchsschwanz, dient sie nur noch einer nostalgisch anmutenden Dekoration.
Als geometrisches Kompositionselement verbindet sie geradlinig beide Seiten des Bildes und verkörpert die Geradlinigkeit im Wesen des Ritters. Mit der Erfindung des Schießpulvers hatte der militärische und damit auch der gesellschaftliche Abstieg des Rittertums begonnen. 1512 war Dürer in Nürnberg Kaiser Maximilian begegnet, jenem Herrscher, der sich selbst als „der letzte Ritter“ verstand. Zwischen beiden entspann sich eine enge Beziehung, der sich mehrere Aufträge für Dürer verdankten.
In Maximilians humanistisch geprägter Umgebung erlebte das Rittertum, gerade weil es sozial versank, noch einmal eine geistig-kulturelle Wiedergeburt. Es stieg zum Sinnbild einer menschlichen Existenz empor, die sich nicht mehr innerhalb der feudalen Ständepyramide und ihrer Schranken bewegte. In diesem allgemein menschlichen Sinne, wie er in jener Umbruchzeit – angelehnt an römisch-antike und an biblische Quellen – entwickelt wurde, sucht Dürers Ritter seinen Weg durch die Welt. Begleiten wir ihn neugierig und aufmerksam! Seit der Renaissance ist „Ritterlichkeit“ gleichbedeutend mit Fairness und Eleganz, mit Hilfsbereitschaft und Höflichkeit. Dieser humanistische Gehalt war bereits im alten ritterlichen Tugendkanon angelegt. Denn als einziger gesellschaftlicher Schicht war es dem Rittertum gelungen, sich teilweise dem kirchlichen Bildungsmonopol zu entziehen und ein eigenständiges, weltliches Persönlichkeitsideal zu entwickeln.
(2) Das gesamte christliche Spitzenpersonal fehlt
Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass auf dem Kupferstich das gesamte christliche Spitzenpersonal fehlt. Kein Gott der Schöpfer, kein Gott der Erlöser, kein Gott der heilige Geist werden auch nur angedeutet! Alle kirchlichen Heilssymbole und Jenseitsbezüge fehlen. Der Ritter ist kein Kreuzritter, der gegen Ungläubige oder Abtrünnige zu Felde zieht. Er ist kein Ordensritter, kein Gralssucher, kein Drachenkämpfer, sondern ein lächelndes männliches Individuum, das sich – ohne frommes Flehen auf Hilfe von oben – mit offenem Visier eigenständig einen Weg bahnt.
Er steckt zwar noch, gut mittelalterlich, mit dem ganzen Körper in einer Rüstung, aber der individuellste Teil des Menschen, das Gesicht, ist frei. Mit klarem Blick und weitem Blickfeld reitet er durch das Dickicht der Welt. Die schmalen Sehschlitze eines Visiers mögen ausreichen, einen Gegner im Turnier zu treffen, die Welt kann man durch sie hindurch nicht entdecken. Nur wer die Augen weit aufmacht, kann die Wirklichkeit erspähen. Der Ritter zeigt sein Profil. Er versteckt sich nicht, er zeigt sich selbst, ohne in eine eitle Selbstdarstellung zu verfallen. Das hochgeklappte Visier steht für Offenheit, Ehrlichkeit, Redlichkeit. Der Ritter schützt sich, aber er schottet sich nicht ab. Er behauptet sich, aber er kapselt sich nicht ein.
Das Gesicht des Ritters ist robust, von kerniger Männlichkeit geprägt. Stirn, Nase und Kinn sind durch kräftigen Knochenbau charakterisiert. Augen und Mund wirken lebendig und fest, aber nicht starr. Die Falten um den Mund, die Grübchen, deuten ein Schmunzeln an. Das Lächeln zeigt den Ritter als Menschen mit Gefühl und geistigen Regungen, als Wesen von innerer Beweglichkeit. Trotz aller Härte und Sprödigkeit, die die Rüstung verraten, trotz allen Lebensernstes ist er nicht verhärtet, nicht verkniffen, sondern gelöst und gelassen. Er zeigt eine souveräne Haltung, aber keine heldische oder gar herrische Pose. Er ist gewappnet und geöffnet in eins für das Leben, das gefährlich und schön zugleich ist.
Seine Bildung speist sich nicht aus Büchern, sondern aus Welterfahrung und Weltläufigkeit. Seinen Schliff hat er bekommen, indem er sich am harten Stoff der Wirklichkeit abarbeitet. Diese Bewährung im tätigen Leben tut seinem Sinn für Schönheit keinen Abbruch, wie seine fein ziselierte Rüstung und das prachtvoll geschmückte Pferd beweisen.
Warum lächelt der Ritter? Mag das Lächeln der Mona Lisa für immer rätselhaft bleiben, das Lächeln des Dürerschen Ritters lässt sich als verschwiegene Antwort auf die beredte Gebärde des Todes verstehen. Das Lächeln zeigt sein stilles Einverständnis mit der Botschaft des Todes. Er begreift und bejaht, was der Tod ihm mitteilt. Wobei festzuhalten bleibt, dass allein der Tod spricht, der Ritter aber schweigt.
Was teilt der Tod ihm mit? Wer ist der Tod? Wie tritt er auf? Der Tod ist der zweite Reiter auf dem Bild, kein zufälliger, zeitweiliger Weggefährte, sondern der ständige Begleiter des Ritters. Hier nutzt er zwar die Gunst eines schmalen Gebirgspfades, sich dem Ritter in den Weg zu stellen. Aber grundsätzlich ist und bleibt er der untrennbare Lebenspartner des Ritters, ihm von Anfang an beigesellt. Ihre Begegnung erfolgt insofern nicht überraschend, sondern führt zwei alte Bekannte zusammen. Das Pferd des Todes trägt unter dem Hals ein Glöckchen, das bei jedem Schritt bimmelt. Leise erinnert es ständig an die Sterblichkeit, auch dem stolzen Ritter schlägt irgendwann die letzte Stunde.
Der Tod trägt eine verzierte Krone. Er ist der Herrscher über das Leben. Alles Lebendige ist ihm unterworfen. Mag der Ritter im Leben herrschen, über das Leben herrscht der Tod. Er ist die letzte Instanz. Er setzt den letzten Termin. „Allein der Tod ist unsterblich“, wie der römische Dichter Lukrez sagte: „mors immortalis“. Als absolute Grenze erzeugt er absolute Gewissheit.
Der Tod ist von menschlicher Gestalt und menschlicher Art, kein bizarres, blankes Skelett, das wie ein Spuk von außen an den Menschen herantritt. Er hat noch Hand, Fleisch, Haare, Augen, Finger, aber keine Nase, keine Lippen mehr. Er befindet sich im Verwesungsprozess. Der Tod wächst aus dem Leben selbst heraus. Er ist Bestandteil des Lebens. In der rechten Hand hält er das Stundenglas und – darauf befestigt – eine Uhr mit Zifferblatt und Zeigern. Den akustischen Signalen seines Reittieres fügt er eine doppelte optische Erinnerung hinzu. Die ungewöhnliche, auffällige Kombination beider Zeitmesser verdeutlicht die zwei verschiedenen Seiten der Zeit.
– Die Sanduhr verweist auf das unaufhaltsame, unterschiedslose, trostlose Verrinnen der Zeit, ob die Menschen es wollen oder nicht, ob sie es wahrnehmen oder nicht.
– Das Zifferblatt mit den Zeigern verweist auf das menschliche Vermögen, die Zeit zu messen, den richtigen Zeitpunkt zu erfassen und rechtzeitig zu handeln.
Anders formuliert: der Mensch kann die Zeit zwar nicht aufhalten, aber er kann in sie eingreifen. Sanduhr und Zifferblatt stehen für Chronos und Kairos, um zwei Begriffe griechischen Ursprungs aus der Bildungssprache zu verwenden. Der Mensch ist zwar der formalen, immergleichen Zeit (Chronos) unterworfen, aber er kann sie auch inhaltlich füllen, gestalten und zur bewusst gelebten Zeit (Kairos) erheben. Insofern droht der Tod nicht eigentlich, er mahnt vielmehr zu erkennen, was die Stunde schlägt und wem sie schlägt.
(3) Memento mori und carpe diem gehen ineinander über
Mit expressiver, geradezu expressionistischer Körpersprache, mit flehentlichem Blick und mit eindringlicher Handgestik ruft er dem Ritter zu: O Mensch! Gedenke, dass Du sterben musst! Nutze die kurze Zeitspanne, die dein Leben ist. Nutze den Tag, nutze die Gunst der Stunde! Das „memento mori“ und das „Carpe diem“ gehen ineinander über und erklären sich wechselseitig. Die Dramatik des Lebens spiegelt sich in der Gesichtsdramatik des Todes.
Die besondere weltanschauliche Qualität dieses Todesverständnisses war bei Dürer erst in einem längeren Lern- und Bildungsprozess herangereift. Sein Freund und Mäzen, der weltläufige Nürnberger Patrizier und Humanist Willibald Pirckheimer hatte ihm zwei Italienreisen spendiert und eben damit zugleich den Zugang zu den heidnisch-freigeistigen Ideen der italienischen Renaissance erschlossen. Von ihnen angeregt, korrigierte Dürer das mittelalterlich-christliche Todesverständnis mit stoisch-epikureischen Elementen.
Der Tod ist zwar ein Reiter, aber kein apokalyptischer Reiter mehr, der mit Pfeil und Bogen auf die Menschen schießt. Dürers Tod ist auch kein Schnitter mehr, der mit Sense oder Sichel die Menschen dahin mäht. Offenkundig löst er keinen Schrecken, kein Heulen und Zähneklappen aus. Die Schlangen, die sich um Hals und Haupt winden, erinnern als Bewohnerinnen des Erdreiches daran, dass der Mensch selbst erdhaft ist und wieder zu Erde wird. Falls sie auch als ein letztes Überbleibsel des Gorgonenhauptes zu verstehen wären, das dem Betrachter Entsetzten einflößt und ihn versteinert, so haben sie – wiederum offenkundig – ihre Angst einflößende Macht verloren.
Im Sinne der Weltanschauung de Renaissance, die alt und neu zugleich war, hat der Tod sich in einen Helfer zum Leben verwandelt. Seine religiös-metaphysische Rolle hat er eingebüßt. Er ist nicht mehr göttliche Strafe („der Sünde Sold“), sondern ein natürliches Ereignis, das dem Leben selbst innewohnt. Dürers Bild ist auch kein mittelalterliches Vanitas – Bild. Der Tod ist zwar der gekrönte und unbesiegbare Herrscher, aber er verdammt das irdische Leben nicht zur Vergeblichkeit, Nichtigkeit, Sinnlosigkeit. Der Ritter kennt und verfolgt durchaus erstrebenswerte, lebenswerte, innerweltliche, diesseitige Ziele. Der Tod widerlegt nicht das Streben des Ritters, er begrenzt es, verleiht ihm sein endliches, menschliches Maß.
Wie reagiert der Ritter? Er wendet sich vom Tod nicht ab, er wendet sich dem Tod nicht zu. Er schweigt, er lächelt, und er reitet unbeirrt weiter, ohne den Tod eines Blickes zu würdigen. Eben dieses Verhalten zeigt: er hat die Botschaft des Todes verstanden, innerlich aufgenommen, angenommen. Seit der Ritter seine Sterblichkeit erkannt und bejaht hat, ist er bei sich selbst angekommen. Er hat allmählich gelernt, sich nicht mehr zu wichtig zu nehmen, sich nicht in Allmachtsphantasien hinein zusteigern. Keineswegs hat er nun ständig seinen Tod vor Augen. Kein Mensch kann und soll unaufhörlich an seinen Tod denken – das wäre pathologisch und lebensabträglich. Wohl aber können wir unsere Sterblichkeit in unser Lebensgefühl, in unseren Lebensentwurf aufnehmen. Ein feiner, ein wesentlicher Unterschied. Sich als Sterblicher wissen, heißt abschiedlich leben: den finalen Abschied vom Leben ins Lebensgefühl selbst aufnehmen.
Nur der Mensch, nicht das Tier ist sich seiner Sterblichkeit bewusst. Schauen Sie bitte genau hin. Der Tod spricht nur zum Ritter, nicht zu dem Pferd, nicht zu dem Hund, erst recht nicht zu der Eidechse, die ihren eigenen Weg kriecht. Fast ist sie ein humoristisches Motiv. Sie läuft der allgemeinen Marschrichtung entgegen und lässt erkennen, dass sie nicht zu den Tieren gehört, die – wie Pferd und Hund –, vom Menschen gezähmt wurden. Sie alle müssen natürlich sterben. Auch Todesahnungen und Todesängste sind Tieren nicht fremd. Aber ein reflektiertes Bewusstsein der Sterblichkeit ist dem Menschen vorbehalten.
Der Tod begegnet dem Menschen nicht erst am Ende des Lebens, sondern bereits mitten im Leben. Eben dies macht der Kupferstich sichtbar. Der Tod macht keinerlei Anstalten, den Ritter zu holen. Er greift nicht nach ihm und sagt auch nicht: Jetzt bist du dran, jetzt musst du sterben. Insofern unterscheidet sich das Bild klar von einer Totentanzdarstellung, wo der Tod erbarmungslos einen blühenden Menschen mitten aus dem Leben reißt.
Dürers Tod hält vielmehr nur das Stundenglas hoch, das erst zur Hälfte durchgelaufen ist. Die zweite Halbzeit hat der Ritter noch vor sich. Zugespitzt formuliert: Der Tod auf Dürers Bild verkörpert das Bewusstsein der Sterblichkeit. Der Tod ist ein bewusst gewordener Teil des Ritters selbst, mit dem er sich versöhnt hat. Angesichts des Todes vermittelt das Bild einen zweifachen Trost, eine zweifache innerweltliche Hoffnung. Sie ist dargestellt
– in der behäbigen Stadt oben auf dem Berg, auf die mehrere Linien des Bildes zulaufen,
– in dem Namensschild links unten mit Dürers Monogramm AD, das unmittelbar mit einem Totenschädel eine herausfordernde Einheit bildet.
Die behäbige Stadt oben auf dem Berg ist das urbane Leitbild der Zivilisation, an dem sich der Ritter bei seinem Weg durch die Wildnis der Welt orientiert. Wie eine Pfeilspitze zeigt das aufgeklappte Visier dorthin. Die Berge öffnen sich wie eine Kimme und geben einen perspektivischen Blick in die Höhe und in die Tief des Bildes frei. Ob der Ritter von der Stadt herab oder zu ihr hinauf reitet (wie gerne angenommen wird), ist nicht erkennbar und für den Bildsinn unerheblich.
Er zieht seine Straße zwar einsam, aber er folgt keinem individualistischen Lebensentwurf ohne soziale Bindungen. Er ist kein lachender Vagabund, heute hier, morgen dort, kein Abenteurer, kein Vorläufer des Marlboro-Mannes. Beweglich und bodenständig zugleich, ist er unterwegs zwischen Heimat und Fremde. Wie die höher gelegene Stadt erkennen lässt, kennt der Ritter neben seinem persönlichen Fortkommen durchaus „höhere“ Werte. Die in ihr vergegenständlichte Idee des Gemeinwohls ist ihm nicht fremd.
Die Stadt auf dem Berge versinnbildlicht ein wohlgeordnetes menschliches Gemeinwesen: erdverbunden, diesseitig durch und durch. Sie ist keine Vision des himmlischen Jerusalem, kein entrückter Ort der Glückseligkeit. Sie zeugt von der gestalterischen Kraft menschlicher Kooperation, die dem Individuum Halt verleiht und Werte schafft, die seinen Tod überdauern. Dürer liebte seine Heimatstadt Nürnberg, deren Silhouette einige Interpreten in dem Kupferstich zu erkennen glaubten. Er wusste, was er ihr als Bürger verdankte. Als er diese Graphik schuf, hatte er bereits europäische Städte wie Basel, Straßburg, Kolmar, Augsburg und Venedig bereist. Insofern konnte er aus eigener Erfahrung und Anschauung den relativen Wahrheitsgehalt des mittelalterlichen Sprichwortes bestätigen „Stadtluft macht frei“. Sie machte zumindest freier, indem sie eine größere Beweglichkeit des Geistes und des Körpers ermöglichte.
Von hier aus ergibt sich auch der konkrete sozialgeschichtliche Nebensinn des Kupferstiches. Mit seinem spitzen Visier verweist der Ritter auf die Stadt als Stätte der Zukunft. In ihren Mauern bereitete sich die Geburt des modernen Individuums vor. Mochte das Rittertum als gesellschaftliche Schicht des Feudalsystems auch untergehen, das Stadtbürgertum mit seinen zivilen Umgangs- und Rechtsformen verkörperte eine neue Zeit. Gesteigerte Arbeitsteilung und Austausch von Waren und Dienstleistungen am Markt gegen Geld – alles deutete darauf hin, dass Urbanität und Humanität sich begegnen und bereichern.
Der zweite Hinweis auf einen innerweltlichen Trost angesichts des Todes findet sich (links unten am Bildrand) in dem kombinierten Motiv Totenschädel und Namenstafel mit dem Meisterzeichen AD 1513. Eine pfiffige Pointe! Sie dokumentiert Dürers persönliche Haltung zum Tode, die Demut und Selbstbewusstsein verbindet. Auch er, Albrecht Dürer, ist sterblich, gewiss. Aber das Werk, das er geschaffen hat, überdauert ihn. Sein Kupferstich ist ein Gebilde, in dem er sich als Künstler vergegenständlicht, materialisiert hat. Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang. Diese alte lateinische Spruchweisheit („vita brevis – ars longa“) bestätigt sich erneut, wie wir Nachgeborenen soeben dankbar erfahren, zumal im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Künste, von der Walter Benjamin sprach. Wie das Pferd im nächsten Augenblick über den Totenschädel stolpern mag, so soll auch der Betrachter stolpern über den Sinn- und Sachzusammenhang „Schädel und Namenstafel“.
Wie steht es mit dem Teufel hinter dem Ritter? Wir stolpern nicht über ihn, wir stutzen über ihn. Er ist ein bizarres Mischwesen, das sich in seinem aufrechten Gang zwar menschlich gebärden möchte, dessen tierhafte Züge und Glieder freilich die Gesamterscheinung prägen. Sein Gesicht ist geformt aus einem Schweinerüssel mit Hauern, aus Eulenaugen mit Federkranz. Kehllappen eines Hahnes, zwei Widderhörner, zwei Ziegenohren, ein Affenohr und auf der Schädeldecke ein gekrümmtes Horn mit einem rehartigen Grat davor geben dem Kopf ein monströses Aussehen. Ein Rattenschwanz, Bocksbeine und Fledermausflügel vervollständigen das Bild einer hässlichen Bestie. Nach mittelalterlich-christlichem Volksglauben, dem Dürer hier verhaftet ist, kann der Teufel jegliche Tiergestalt annehmen außer der des Lammes und der Taube, die dem Erlöser vorbehalten sind.
Der Teufel ist ein stiller Wanderer, der sich hinterrücks an seine Opfer heranschleicht und aus dem Hinterhalt agiert. Mit seiner rechten Klaue greift er hier nach dem Ritter und sucht ihn auf seinem Wege zu behindern. Sein böses Werk besteht darin, die Selbstbestimmung des Ritters, sein Subjektqualität, möglichst zu vereiteln.
(4) Der Teufel – das schwächste Element des Bildes
Ist Dürer dieser Teil des Bildes geglückt? Ich denke, nur sehr unvollkommen. Der Teufel ist das schwächste Element auf dem Kupferstich. Ihm fehlen die psychologische Feinzeichnung und die soziale Tiefendimension, die Dürer dem Beziehungsgefüge Ritter, Tod und Stadt auf dem Berge zu geben vermochte. Das Böse besteht hier in einer widernatürlichen Kombination tierischer Gliedmaßen, die auf verworrene Animalität und unbeherrschte Triebhaftigkeit verweisen. Das Geistige und das Willentliche im Bösen, die kriminelle Energie, die aktive Niedertracht, die im menschlichen Hirn nisten, fehlen völlig. Dürers Teufel wirkt eher wie ein tölpelhafter, fast drolliger Waldschrat. Damit ist er zwar ein Stück weit entdämonisiert und entdramatisiert – etwa im Vergleich zu sadistischen Quälgeistern auf mittelalterlichen Bildern, aber um den Preis einer Verharmlosung und Vereinfachung des Bösen im Menschen. Wie viele edelmütige Humanisten und Aufklärer hat er die zerstörerische Gewalt des Bösen, seine Glut und seine Kälte, unterschätzt.
Dürers Teufel hält der Wucht der menschlichen Geschichte nicht stand – weder dem Teil, den der Künstler bereits übersehen konnte noch erst recht unseren Erfahrungen im zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhundert. Die christliche Folklore führt hier in die Irre. Wer wäre je einem Teufel mit Bocksfüßen begegnet? Der Teufel tritt auf in Kommissstiefeln und in Hauspantoffeln. Gekleidet in Seide und in Nadelstreifen, agiert er im Wohnzimmer und in der politischen Arena. Er ist eine individuelle Mischung aus Dummheit und Bosheit, aus Rohheit und Klugheit, aus Gewalt und Hinterlist.
Das Böse hat eine naturhaft-körperliche und eine geistige Dimension, die freilich untrennbar verwoben sind. Es ist ein Teil von uns selbst, eine ständige Möglichkeit unserer selbst. Um uns und andere davor zu schützen, bedürfen wir der Erziehung und der Zivilisation, deren Erfolge allerdings nie unumkehrbar sind.
Albrecht Dürer hat mit seinem Kupferstich – gleichnishaft verdichtet – eine Grundfigur und Grundbefindlichkeiten der menschlichen Existenz ins Bild gesetzt. Menschsein heißt – auf dem Wege sein, auf dem Weg durch die Welt, auf dem Weg zu uns selbst. Wir legen einen äußeren und einen inneren Weg zurück. Jeder von uns muss selbst seinen eigenen Weg suchen und finden. Oft wird es nur ein Pfad sein: ein Pfad durch unbehauenes Gelände. Eine Garantie, sich nicht zu verirren oder ein Ziel zu erreichen, gibt es nicht, kann es nicht geben. Weg und Abweg, Weg und Umweg oder Irrweg lassen sich oft nicht deutlich unterscheiden. Manchmal wird erst im Nachhinein deutlich, wo es entlang ging und wo es nicht hätte entlang gehen dürfen.
(5) Der Ritter hat die Zügel seines Lebens fest im Griff
Der Ritter hat die Zügel seines Lebens fest im Griff. Seine zupackende Art zeugt von Willensstärke. Niemand ist zu sehen, an wen er die Verantwortung für seinen Weg abtreten könnte. Alle religiösen Heilsbringer und Heilsmittler fehlen, ebenso alle religiösen Heilsziele und Heilszeichen.
„Schwerer Dienste tägliche Bewahrung,
sonst bedarf es keiner Offenbarung.“
So ließe sich mit einem Vers Goethes aus dem „Westöstlichen Diwan“ diese Haltung des Ritters charakterisieren. Seit geraumer Zeit befindet sich der Ritter auf dem langen Marsch durch das Leben. Seine wilden Jahre hat er hinter sich. Schnelle Wendemanöver und trickreiche Finten sind mit seiner langen Lanze und seinem Schwert ohnehin kaum durchzuführen.
Beide Geräte dienen auch weniger dem Ritter als Waffen denn Dürer als kompositorische Mittel. Sie geben dem Bildaufbau ein festes Liniengerüst, an dem auch der emotionale und ideelle Ausdruck des Kunstwerkes haftet. Die Lanze erstreckt sich quer über das ganze Bild und verbindet beide Ränder miteinander. Lassen sich Geradlinigkeit und Unbeirrbarkeit des Ritters einfacher ausdrücken? Gemeinsam mit dem Schwert bildet die Lanze ein gleichschenkliges und stumpfwinkliges Dreieck. Lässt sich die die ausbalancierte Wesensart des Ritters schöner unterstreichen? Abhold allem Waghalsigen und Exzentrischen, ruht er breit und sicher auf.
Ohne die auflösende Gewalt des Todes und die zerstörerische Gewalt des Teufels zu verleugnen, strahlt die innere Bildstruktur ein positives Lebensgefühl und ein konstruktives Weltverhältnis aus. Die Dinge sind im Lot.
Dürer lässt uns zum Ritter aufschauen. Er weist dem Betrachter einen Platz in einiger Distanz zu seinen Füßen zu. Dadurch erhebt sich der Ritter – vor dem ungewöhnlich hoch gelegenen Horizont – als ein menschliches Leitbild von schlichter Monumentalität. Ich wünsche uns allen, dass uns die die herbe Schönheit von Dürers Meisterwerk noch lange begleitet. Ich wünsche uns allen, dass wir uns von der Geradlinigkeit des Ritters anstecken lassen. Ich wünsche uns allen, dass wir unser Rösslein ebenso sicher und sattelfest lenken wie er. Und ich wünsche es uns allen, dass wir es möglichst mit einem Lächeln hinnehmen können, wenn uns die Zügel unseres Lebens für immer entgleiten.
Literatur
Wichtige Einsichten zum Bild verdanke ich der grundlegenden Monographie von Heinrich Theissing „Dürers Ritter, Tod und Teufel. Sinnbild und Bildsinn“, Berlin, 1978. In der Deutung und Bewertung gehe ich vielfach eigene Wege.
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Autor: Joachim Kahl