Buch 13: Atheistische Argumentationshilfen

Erkenntnisduelle. Aktuelle Konfliktthemen.

Diskurs 13.01/6


3. Runde · Erwiderung
Dr. Michael Schmidt-Salomon
"Das Einstein-Paradigma: Warum wir uns vom Prinzip der alternativen Möglichkeiten verabschieden sollten"

1. ATHEODOC Erkenntnis-Duell
Hat der Mensch einen freien Willen?
3. Runde 01. März 2013: Erwiderung



Meine nachfolgenden Darlegungen sind in zwei Teile untergliedert: Im ersten Teil muss ich leider noch einmal auf das Prinzip der alternativen Möglichkeiten eingehen, dessen Bedeutung Paul Schulz stark unterschätzt. Im zweiten Teil kann ich mich dann einem besonders wichtigen Aspekt zuwenden, der bislang in dieser Debatte überhaupt nicht thematisiert wurde, nämlich dem schon von Albert Einstein herausgestellten Zugewinn an Freiheit, der mit dem Abschied von der Willensfreiheitshypothese einhergeht.

1. Teil: Das Prinzip der alternativen Möglichkeiten

Ich muss gestehen, dass mich die letzten Darlegungen von Paul Schulz etwas verwirrt haben – vor allem im Hinblick auf die Haltung, die er gegenüber einem zentralen Problem unserer Debatte,  nämlich dem „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ (PAM), einnimmt. Zu meiner Verwunderung hält Paul Schulz die in der philosophischen Willensfreiheitsdiskussion immer wieder diskutierte Frage, ob sich eine Person X zum Zeitpunkt Y anders hätte entscheiden können, als sie sich de facto entschied, für ein „philosophisches Hirngespinst“, einen „scherzhaften Versuch“, weshalb er mich „freundschaftlich“ bittet, die Frage zurückzunehmen.

Offenkundig hat Paul Schulz die Bedeutung von PAM nicht verstanden. Man erkennt dies schon daran, dass Schulz meint, beim Prinzip der alternativen Möglichkeiten gehe es darum, „dass jemand, der damals in der Vergangenheit eine Entscheidung getroffen hat, wenn er zurückkehren würde in exakt die gleiche Situation, dann eine andere Entscheidung treffen könne als die, die er damals getroffen hat.“ Tatsächlich aber hat PAM mit der irrealen Rückkehr einer Person in eine bestimmte Situation überhaupt nichts zu tun (insofern hätte sich der Autor seine Ausführungen über Heraklit und Nietzsches „Wiederkehr des Gleichen“ komplett sparen können!). Vielmehr geht es um die realen Bedingungen dieser einen Entscheidungssituation, nämlich um die inneren und äußeren Ursachen, die der individuellen Entscheidung in diesem einen, unwiederbringlichen Moment zugrunde liegen.

Wer sich zur Frage der Willensfreiheit äußert, sollte angeben können, ob er dem Prinzip der alternativen Möglichkeiten zustimmt oder ob er es ablehnt. Meine Haltung in dieser Frage ist klar: Da jede Person in jedem Moment ihres Lebens nur einen spezifischen Hirnzustand aufweist, kann sie sich just in diesem einen Moment nur auf diese eine spezifische Weise entscheiden. Daher ist PAM aus naturalistischer Sicht abzulehnen. Demgegenüber müsste ein Verteidiger des Prinzips der alternativen Möglichkeiten darauf beharren, dass in ein und demselben Moment mehrere Hirnzustände möglich wären, was die notwendige Voraussetzung dafür wäre, dass sich eine Person X zum Zeitpunkt Y ebenso gut für Handlung A wie auch für Handlung B entscheiden könnte.

Tatsächlich scheint Paul Schulz dieses anzunehmen, wenn er schreibt: „Selbstverständlich könnte ein Mensch theoretisch damals wie jeder Mensch heute in der gleichen Entscheidungssituation im Sinne alternativer Möglichkeiten anders entscheiden, als er damals entschieden hat. Überhaupt gar nichts spricht dagegen.“ Paul Schulz zufolge müsste also ein Mensch in ein und demselben Moment unter den exakt in diesem Moment vorherrschenden Bedingungen zwei oder mehrere verschiedene Hirnzustände aufweisen können – was entweder einen Widerspruch an sich darstellt oder aber das Eingreifen einer supranaturalen Kraft (etwa eines gottgleich über den natürlichen Prozessen schwebenden Ichs) voraussetzt, die das Individuum aus der allumfassenden Natur-(und Kultur-)Kausalität herauslöst.

Letzteres aber würde gegen die naturalistischen Grundannahmen verstoßen, die Paul Schulz selbst vertritt. Dies wird besonders in seiner „7. These“ deutlich. Hier heißt es: „Freiheit gibt es nicht. Freiheit ist eine irreführende philosophische Fiktion, ein typisches Hirngespinst der Kopfwelt. Freiheit kommt in der Natur und in der realen Wirklichkeit nicht vor. In der Natur bestehen immer Abhängigkeiten und damit Unfreiheiten. Auch für den Willen gibt es jede Menge natur- und wirklichkeitsbedingter Abhängigkeiten.“ Die Freiheit, die Paul Schulz hier zu Recht verneint, ist die Freiheit von Ursachen. Tatsächlich müssen wir davon ausgehen, dass alles in der Welt (möglicherweise mit Ausnahme von Quantenfluktuationen im mikrokosmischen Bereich – aber selbst das wird mittlerweile von Physikern zunehmend bestritten!) von einem komplexen Geflecht von Ursachenketten bedingt ist, die ihrerseits aus einem komplexen Geflecht von Ursachenketten hervorgegangen sind.

Wendet man diese naturalistische Grundannahme auf Willensentscheidungen an, wird klar, warum ein Naturalist das Prinzip der alternativen Möglichkeiten nicht widerspruchsfrei vertreten kann: Denn wenn es in der Realität keine Freiheit von Ursachen gibt, trifft dies selbstverständlich auch auf jene Prozesse zu, die in menschlichen Gehirnen stattfinden. Unsere Entscheidungen können deshalb gar nicht anders ausfallen, als sie auf der Basis unserer jeweiligen Anlagen und Erfahrungen ausfallen müssen. Schließlich beruht jede einzelne Entscheidung auf einem spezifischen Hirnzustand, dem ein spezifisches, exakt in diesem Moment wirksames Ursachengeflecht (physischer, chemischer, biologischer, psychologischer und kultureller Art, siehe hierzu auch den Anhang meines Buchs „Jenseits von Gut und Böse“) zugrunde liegt. Eine alternative Entscheidung würde einen alternativen Hirnzustand verlangen, der allerdings nur auf der Basis eines alternativen Ursachenbündels möglich wäre. Da aber in jedem Moment nur ein spezifisches Cluster von Ursachen existiert, kann das Individuum stets nur exakt die Entscheidung treffen, die dem vorherrschenden Ursachencluster entspricht.

Würde Paul Schulz den naturalistischen Ansatz konsequent zu Ende denken, müsste auch er das Prinzip der alternativen Möglichkeiten ablehnen. Warum aber tut er es nicht? Warum verwickelt er sich lieber in logische Widersprüche, als dass er sich von PAM und damit von der starken Version der Willensfreiheitsidee verabschiedet? Ich vermute, dies hängt damit zusammen, dass er in dem Abschied von der Willensfreiheitsidee einen Angriff auf die Autonomie des Individuums sieht. Doch in diesem Punkt irrt Paul Schulz! Tatsächlich nämlich könnte der Abschied von der irrealen Willensfreiheit sogar zu einer Stärkung realer Freiheiten führen.

Bevor ich dazu komme, diesen wichtigen Punkt (Kern des 2. Teils meiner Ausführungen) zu erläutern, möchte ich noch einmal zwei Argumente in Erinnerung rufen, die ich bereits in meiner vorangegangenen Erwiderung ausgeführt habe:

1. Auch nach dem Abschied von der Willensfreiheit sind wir keineswegs bloß Automaten, die auf dem Laufband der Zeit das abspulen müssten, was einer vermeintlich vorangegangenen Programmierung entspricht. Vielmehr sind wir als lebende, d.h. Wohl und Wehe empfindende Wesen dazu verurteilt, auf kreative Weise das Beste aus den gegebenen Rahmenbedingungen herauszuholen. Und eben dies lenkt den Fluss der Ereignisse immer wieder in neue Bahnen. Der Fatalismus (den Paul Schulz mir fälschlicherweise unterstellt hat) scheitert also an einem fundamentalen Naturgesetz des Lebens: Unser Wille ist zwar determiniert, durch Ursachen bestimmt, aber zu diesen Ursachen gehört auch der biologische Druck, kreativ zu sein, d.h. aus dem Vorgegebenen Neues zu schöpfen. Unsere Zukunft bleibt daher offen – selbst in einem von Ursachen bestimmten, deterministischen Universum.

2. Die autonome Selbstbestimmung, die im Zentrum der Schulzschen Ausführungen steht, ist ein Element der Handlungsfreiheit – nicht der Willensfreiheit. Dies ist der Grund dafür, warum der Abschied von der Willensfreiheit unsere zentralen Freiheitsintuitionen, unsere Freiheitswünsche, gar nicht betrifft. Denn die Freiheit, die wir meinen, wenn wir diesen Begriff emphatisch benutzen, ist stets eine Freiheit des Tuns: Frei sein, das bedeutet, tun zu können, was man will (Handlungsfreiheit) – es bedeutet nicht, zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas anderes wollen zu können als das, was man will (Willensfreiheit). Die Freiheit, um die es uns geht, ist eine Freiheit von den Zwängen, die unserem Willen entgegenstehen, keine Freiheit von den Ursachen, die unseren Willen bestimmen! Wir sind frei, wenn uns weder äußere Zwänge (etwa diktatorische Maßnahmen des Staates) noch innere Zwänge (beispielsweise irrationale Ängste) davon abhalten, unseren Willen in die Tat umzusetzen. Fallen innere und äußere Handlungsfreiheit zusammen, so können wir tun, was wir wollen – wir sind frei im wahrsten Sinne des Wortes. Für diese „Freiheit von Zwängen“ (Handlungsfreiheit) kämpfen wir als Humanisten – sich für eine „Freiheit von Ursachen“ (Willensfreiheit) einzusetzen, wäre töricht.

Paul Schulz scheint dies in gewisser Weise ebenfalls erkannt zu haben. Deshalb spricht er in seinem dritten Beitrag auch nicht mehr von einem freien, sondern nur noch von einem „befreiten Willen“. So weit, so gut. Die grundlegende Frage lautet aber: Wovon soll der Wille denn befreit werden? Etwa von Ursachen? Dies wäre, wie gesagt, töricht! Selbstverständlich unterliegt jeder Wille – und sei er noch so reflektiert! – Ursachen.  Zwar können wir uns von bestimmten Ursachen befreien (etwa infolge einer Psychotherapie, die uns von einem Trauma erlöst), aber das daraus resultierende veränderte Denken, Fühlen, Handeln ist natürlich keineswegs „ursachenfrei“, sondern bloß durch andere Ursachen (etwa die erfolgreiche Psychotherapie) bedingt.

Mit der Rede vom „befreiten Willen“ kann also nur eine Befreiung von Zwängen (Faktoren, die unserem Willen im Wege stehen) gemeint sein, keine Befreiung von Ursachen (Faktoren, die unseren Willen bedingen). Insofern hat Paul Schulz mit seinen Beiträgen nicht die Willensfreiheit (die Freiheit von Ursachen), sondern die Handlungsfreiheit (die Freiheit von Zwängen) verteidigt.

Nun könnte uns ein solcher Streit um Worte (was für den einen „Willensfreiheit“ ist, versteht der andere als „Handlungsfreiheit“) egal sein, wenn die unterschiedlichen Begriffsbelegungen für das Denken, Fühlen und Handeln der Menschen irrelevant wären. Aber das sind sie eben nicht! Denn die Verwechslung von Handlungsfreiheit und Willensfreiheit führt dazu, dass die weitreichenden Konsequenzen übersehen werden, die sich aus einem Abschied von der Willensfreiheitsidee ergeben. Auf diesen wichtigen Punkt bin ich bereits sehr ausführlich in meinem Buch „Jenseits von Gut und Böse“ eingegangen. Nachfolgend will ich die entsprechenden Kernargumente noch einmal kurz zusammenfassen…

2. Teil: Das Einstein-Paradigma

Idealtypisch finden wir in der Praxis drei verschiedene Haltungen zum Willensfreiheitsproblem:

1. Die Position des (vermeintlich) „gesunden Menschenverstandes“: Dem Alltagsverständnis zufolge verfügen Menschen (im Unterschied zu anderen Tieren) über einen „freien Willen“, mit dessen Hilfe sie sich (unabhängig von allen determinierenden Ursachenfaktoren) zwischen „dem Guten“ und „dem Bösen“ entscheiden können. (Diese Idee ist die Grundlage des bis heute wirksamen moralischen Schuld- und Sühneprinzips, dessen weitreichende Wirkungen ich in „Jenseits von Gut und Böse“ beschrieben habe.)

2. Die philosophische/wissenschaftliche Mehrheitsmeinung: Diese besagt, dass der „freie Wille“ (im Sinne des „Prinzips der alternativen Möglichkeiten“) wohl nicht existiert, es für uns jedoch sinnvoll sei, an dieser „Freiheits-Fiktion“ im Alltag festzuhalten. (Mit jeweils unterschiedlichen Differenzierungen wird diese Position von der Mehrheit der heutigen Philosophen, Psychologen und Neurowissenschaftler vertreten.)

3. Das Einstein-Paradigma: Diese Position geht davon aus, dass der „freie Wille“ eine Hypothese ist, die nicht nur falsch ist, sondern die wir auch in unserem eigenen Interesse überwinden sollten. (Neben Einstein wurde diese Position in der Vergangenheit von einigen wenigen philosophischen Querdenkern vertreten, etwa von Spinoza, la Mettrie und Nietzsche. Auch heute noch ist sie einigermaßen exotisch, immerhin scheinen einige Neurowissenschaftler, etwa Wulf Singer, allmählich Sympathien für eine solche Sichtweise zu entwickeln.)

Ich bezeichne diese dritte Position als „Einstein-Paradigma“, da Albert Einstein sie in seinem Artikel „Wie ich die Welt sehe“ in geradezu mustergültiger Weise zusammengefasst hat. Einstein schrieb: „An Freiheit des Menschen im philosophischen Sinne glaube ich keineswegs. Jeder handelt nicht nur unter äußerem Zwang, sondern auch gemäß innerer Notwendigkeit. Schopenhauers Spruch: ‚Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber nicht wollen, was er will’, hat mich seit meiner Jugend lebendig erfüllt und ist mir beim Anblick und beim Erleiden der Härten meines Lebens immer ein Trost gewesen und eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz. Dieses Bewusstsein mildert in wohltuender Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefühl und macht, dass wir uns selbst und die andern nicht gar zu ernst nehmen; es führt zu einer Lebensauffassung, die auch besonders dem Humor sein Recht lässt.“

Ich bin überzeugt, dass die Einsteinsche Position, so exotisch sie auch immer erscheinen mag, allen anderen Alternativen überlegen ist. Sie ist nicht nur logisch und empirisch besser begründet, sondern auch im Alltag mit großen Vorteilen verbunden. Denn ein Perspektivenwechsel im Einsteinschen Sinne würde unser Verhältnis zu uns selbst und zu unseren Mitmenschen entkrampfen, er würde uns gelassener, humorvoller, kreativer, freundlicher machen, ja, er hätte sogar eine „spirituelle Dimension“: Denn was Gläubige tagaus, tagein in ihren Gebeten erflehen, die „Erlösung von dem Bösen“, liefert uns Einsteins Weltsicht „frei Haus“. Zu dieser „Erlösung“ bedarf es nämlich keiner göttlichen Gnade, keines wie auch immer gearteten Beistands von oben, sondern lediglich einer kritischen Überprüfung unserer Annahmen über die Welt.

Albert Einstein sah die Vorteile seiner Lebensphilosophie darin, dass sie angesichts der Härten des Lebens „eine unerschöpfliche Quelle der Toleranz“ und des „Trostes“ sei, dass sie „in wohltuender Weise das leicht lähmend wirkende Verantwortungsgefühl“ mildere, dazu führe, „dass wir uns selbst und die andern nicht gar zu ernst nehmen“ und eine Lebensauffassung begünstige, die „besonders dem Humor sein Recht“ lasse. Wie lassen sich diese Wirkungen erklären?

Nun, der Ausgangspunkt der Einsteinschen Argumentation war die Absage an die Idee der „philosophischen Freiheit“ des Menschen. Einstein erkannte an, dass jeder von uns nur der sein kann, der er aufgrund innerer und äußerer Notwendigkeiten sein muss. Wer diese Lektion begriffen hat, dem eröffnet sich tatsächlich die Chance, den eigenen Fehlern und Schwächen mit größerer Gelassenheit zu begegnen. Denn sie bedeutet in der Konsequenz, dass jeder von uns, jetzt, in diesem Moment, gar nicht klüger, eloquenter, liebevoller, attraktiver sein kann, als er es ist. Es wäre unsinnig, würden wir uns selbst dafür verurteilen, dass wir bloß die sind, die wir aufgrund unserer Veranlagungen und Erfahrungen notwendigerweise sein müssen.

Hier finden wir den Grund dafür, weshalb Einstein meinte, dass die Aufhebung der Willensfreiheitsidee dazu führe, dass wir uns selbst und die anderen nicht mehr „gar zu ernst“ nehmen würden. In der Tat: Die meist mit heiligem Ernst vorgetragene Ich-Fixierung, die seltsame Eigenart von Menschen, sich mit stolzgeschwängerter Brust etwas auf sog. „eigene Leistungen“ einzubilden und im nächsten Moment schlimm darunter zu leiden, falls sie in irgendeiner Hinsicht versagt haben sollten, erhält nach dem Abschied vom freien Willen eine durchaus komische Note.

Wie könnte man beispielsweise auf die eigene Schönheit stolz sein, wenn man doch weiß, dass Schönheit maßgeblich abhängig ist von einer zufälligen Anordnung von Adenin, Thymin, Guanin und Cytosin (den vier Basen der DNA), die zu einem Zeitpunkt zusammengewürfelt wurden, als das so stolzgeschwängerte ICH noch gar nicht existierte? Wie könnte ich etwa stolz darauf sein, diesen Vortrag hier vor Ihnen halten zu können? Auch dies ist nicht auf mich als „unbewegtem Beweger“ zurückzuführen, sondern auf Trilliarden von Faktoren, genetischer Ausstattung etwa oder schulischer Förderung, vor allem auch auf die unzähligen kleinen Zufälle meiner Lebensgeschichte. Fakt ist: Unter anderen Bedingungsfaktoren wäre aus dem Kind, das meine Mutter vor 45 Jahren zur Welt brachte, ein ganz anderer Mensch geworden. Schon kleine Veränderungen im genetischen Code oder ein Sauerstoffmangel bei der Geburt hätten dazu geführt, dass dieses andere ICH heute keine Bücher schreiben, sondern Kugelschreiber in einer Behindertenwerkstatt zusammensetzen würde. Ein anderes häusliches Milieu oder andere peer groups hätten dazu führen können, dass dieses ICH heute als Schwerverbrecher im Gefängnis säße – und wäre es unter totalitären Verhältnissen aufgewachsen, hätte es sich vielleicht zu einem eiskalten Nazi-Schergen entwickelt.

Die Einsteinsche Position befreit uns in diesem Zusammenhang nicht nur von Stolzgefühlen, sondern auch von ihren finsteren Gegenspielern, von Minderwertigkeitskomplexen und Versagensängsten, unter denen viele Menschen zu leiden haben. Einsteins Rat, sich selbst nicht mehr gar so ernst zu nehmen, ist dabei in den letzten Jahren zunehmend durch empirische Forschung untermauert worden. Immerhin sollten wir doch langsam wissen, dass dieses „Ich“, an das wir uns so verzweifelt klammern und das uns so ungemein bedeutsam erscheint, in Wirklichkeit nur ein virtuelles Theaterstück ist, das von einem blumenkohlförmigen Organ in unserem Schädel inszeniert wird.

Es wäre absurd, eine solche Inszenierung allzu ernst zu nehmen. Klug wäre es hingegen, die manische Fixierung auf das eigene Selbst zu lösen. Denn: Wer von seinem Selbst lassen kann, entwickelt ein gelasseneres Selbst. An diesem Punkt überschneidet sich der rationalistische, wissenschaftliche Ansatz Einsteins interessanterweise mit mystischen Traditionen. Auch der Zen-Buddhismus beispielsweise sieht gerade in der Überwindung des Selbst seine eigentliche Verwirklichung. Albert Einstein hat diesen Gedanken einmal so formuliert: „Der wahre Wert eines Menschen ist in erster Linie dadurch bestimmt, in welchem Grad und in welchem Sinn er zur Befreiung vom Ich gelangt ist.“

Allerdings führt die Einsteinsche Position nicht nur zu einer größeren existentiellen Gelassenheit unserem Selbst und dem Leben gegenüber, sie wirkt sich auch positiv auf unsere Kreativität aus. Denn: Wer sich nicht schuldig fühlt, der zu sein, der er ist, kann viel leichter daran arbeiten, der zu werden, der er optimalerweise sein könnte.

Normalerweise bremsen wir unsere eigene Kreativität aus, weil wir Angst davor haben, zu versagen, mit einer vielleicht unorthodoxen Idee zu scheitern. Wir zensieren uns lieber selbst, als uns der Gefahr auszusetzen, von anderen verrissen zu werden und danach unser Spiegelbild nicht mehr ertragen zu können. Der Punkt ist: Wer im Einsteinschen Sinne verstanden hat, dass man per definitionem nicht besser sein kann, als man ist, der kann dieser Problematik entgehen. Denn unter dieser Perspektive wird klar, dass es gar nicht darum gehen kann, sich oder anderen zu beweisen, was für ein „toller Hecht“ man ist, sondern allein darum, das möglichst Beste für sich und andere zu erreichen.

Diese veränderte Sichtweise löst die kreative Handbremse im Kopf und führt in der Regel zu besseren, interessanteren Arbeitsergebnissen. Ich bin überzeugt: Einsteins Mut, geltende Konventionen zu durchbrechen und neue Lösungswege zu finden, speiste sich in hohem Maße aus seiner besonderen Lebensphilosophie. Die gute Nachricht dabei ist: Man muss selbst kein Einstein sein, um derartige Erfahrungen machen zu können. Im Zuge meiner Beschäftigung mit dem Thema konnte ich in den letzten Jahren an mir eine Veränderung erleben, die im ersten Moment vielleicht paradox erscheinen mag, aber doch einer gewissen Logik folgt: Seitdem ich nicht mehr stolz auf eigene Leistungen bin, bin ich in der Lage, Leistungen zu erbringen, auf die ich stolz sein könnte, wenn ich denn noch stolz sein können wollen müsste… Etwas allgemeiner formuliert: Wer nicht mehr stolz auf seine Leistungen ist, wird eher Leistungen erbringen, auf die andere stolz wären.

Dass man nach dem Abschied vom „stolzen Ich“ bessere Leistungen erbringen kann, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass man unter dieser Voraussetzung eher in der Lage ist, „Kritik als Geschenk“ zu begreifen. Im Grunde wissen wir ja alle, dass es nur vernünftig ist, Kritik als Geschenk zu betrachten. Schließlich verhilft sie uns dazu, Irrtümer zu überwinden. Eben deshalb wird in der Wissenschaftstheorie immer wieder ein Loblied auf die Kritik angestimmt. In der Praxis sieht das jedoch in der Regel anders aus. Hier erscheint Kritik zumeist als schreckliches Übel.

Unter der Vorherrschaft des Willensfreiheitsparadigmas ist das auch nicht verwunderlich. Denn hier wird der Mitmensch zu einer ständigen Bedrohung, schließlich könnte er ja aufdecken, wo die eigenen Schwächen liegen – Schwächen, zu denen das Individuum nicht stehen kann, da es diese ja auf seinen angeblich freien Willen zurückführen und damit peinlicherweise selbst verantworten muss. Kritische Argumente werden unter dieser Voraussetzung meist als Gefahr empfunden, als unmittelbare Existenzbedrohung. Also gilt bei Kritik höchste Alarmbereitschaft. Kommando: Augen und Ohren zu und durch! Hoffnung besteht allein darin, dass der Kritiker auch irgendwo seine Schwächen hat. Und so ist die Diskussion, die die Diskutierenden eigentlich gemeinsam weiter bringen sollte, häufig nichts weiter, als ein Bombardement von Argumenten, die nicht die verhandelte Sache auf den Punkt, sondern den Gegner an seiner verletzlichsten Stelle treffen sollen.

Das Argument ist unter dieser Voraussetzung eben kein Geschenk, das man dem Anderen unterbreitet, das ihm die Möglichkeit bietet, sein Denken zu erweitern, es ist eine Waffe, die erbarmungslos eingesetzt wird, um unliebsame Kritik an der eigenen Person abzuwehren. Es gibt wohl kaum ein Phänomen, das den gesellschaftlichen (auch innerbetrieblichen) Fortschritt stärker behindert als diese chronische Kritikabwehr.

Auch hier könnte das Einsteinsche Paradigma als Heilmittel dienen. Denn wer diesen alternativen Denkansatz verstanden hat, weiß, dass er gar nicht die Möglichkeit besaß, die Fehler, die er begangen hat, in der gegebenen Situation NICHT zu begehen. Und so muss er sich auch nicht dafür schämen, wenn diese letztlich unvermeidlichen Fehler offen gelegt werden. Ihm wird vielmehr klar, dass er durch das wunderbare Geschenk der Kritik nicht mehr zu verlieren hat als seine Irrtümer – und von seinen Irrtümern sollte man sich lieber heute als morgen verabschieden.

Das Einsteinsche Paradigma erleichtert das Akzeptieren von Kritik vor allem dadurch, dass es uns lehrt, uns selber zu vergeben. Diese gesteigerte Fähigkeit zur Selbstvergebung hat noch weitere positive Konsequenzen. Sie ist wohl auch der Grund dafür, warum Einstein seine Lebensphilosophie als eine „unerschöpfliche Quelle der Toleranz“ empfand. Denn: Wer sich selbst vergeben kann, kann auch anderen besser vergeben. Schließlich gelten für die anderen die gleichen Gesetzmäßigkeiten wie für uns: Auch sie können nicht klüger, freundlicher, aufrichtiger, liebevoller sein, als sie es unter den gegebenen Bedingungen sein müssen.

Zu welch erstaunlichen Vergebungsleistungen Menschen mitunter fähig sind, habe ich in meinem Buch u.a. am Beispiel von Linda und Peter Biehl demonstriert, die etwas geradezu Unglaubliches geschafft haben, nämlich den Mördern ihrer geliebten Tochter Amy nicht nur zu vergeben, sondern mit der Zeit sogar Freundschaft mit ihnen zu schließen und mit ihnen gemeinsam eine erfolgreiche Stiftung zur Verhinderung ähnlicher Verbrechen aufzubauen. Auch bei der von den Biehls so mustergültig praktizierten „Kunst der Vergebung“ ist der Abschied von der Idee der Willensfreiheit eine große Hilfe. Denn jede Schandtat wird noch um ein Vielfaches schändlicher, wenn wir unterstellen, dass sich die Täter aus freien Stücken zu ihr entschlossen haben.

Erst wenn wir die Ursachen verstehen, die Menschen dazu treiben, schreckliche Dinge zu tun, werden wir in die Lage versetzt, ihnen verzeihen zu können. Wie wichtig diese Fähigkeit zur Vergebung ist, wurde erst in den letzten Jahren genauer untersucht. Dabei zeigten die empirischen Studien, dass Vergebung nicht nur demjenigen hilft, dem vergeben wird, sondern gerade auch demjenigen, der vergibt. Nur wenn wir vergeben können, sind wir bereit, einen echten Schlussstrich unter die Vergangenheit  zu ziehen und erlittene Traumata zu verarbeiten.

Eine „unerschöpfliche Quelle der Toleranz“ liegt in dieser Sichtweise vor allem deshalb, weil sie uns von der moralischen Selbstgerechtigkeit befreit, mit der wir gewöhnlich über andere urteilen. Wir neigen leider dazu, es uns selbst zuzuschreiben, nicht „auf die schiefe Bahn“ geraten zu sein, und vergessen dabei, dass wir unter anderen Bedingungen nicht die geworden wären, die wir heute sind. Für die Entwicklung einer humaneren Gesellschaft wäre eine Überwindung dieses Dünkels von enormer Bedeutung. Denn die Selbstgerechtigkeit, mit der die Glücklichen über die Unglücklichen, die Schönen über die Hässlichen, die Gebildeten über die Ungebildeten, die Eliten über die Marginalisierten, die „Guten“ über die „Bösen“ richten, hat in der Menschheitsgeschichte großen Schaden angerichtet.

Eine ähnliche Form von Selbstgerechtigkeit spiegelt sich auch in unserem Verhältnis zur nichtmenschlichen Natur wieder. Auch in diesem Fall von Überheblichkeit spielte die Idee der Willensfreiheit eine entscheidende Rolle. Denn es war vor allem die Fiktion des freien Willens, mit deren Hilfe die künstliche Barriere zwischen Mensch und Tier errichtet wurde. Wir maßten uns an, etwas zu besitzen, was sonst in der gesamten Natur nicht vorkommt, wir wollten „unbewegte Beweger“ sein, Miniaturausgaben jenes ursachenfrei agierenden Gottes, als dessen Ebenbilder wir uns wähnten.

Mit dem Einsteinschen Paradigma bricht diese Barriere zwischen Mensch und Natur in sich zusammen. Wir stehen fortan nicht mehr über der Natur, sondern sind ein Teil von ihr. Um es mit Albert Schweitzer auszudrücken: Wir sind bloß Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will. Aus dieser Einsicht resultiert nicht nur der dringende ethische Auftrag, die Rechte nichtmenschlicher Lebewesen stärker zu beachten, sondern auch eine andere Sichtweise auf unsere eigene Spezies. Dabei sollten wir uns vor allem bewusst machen, dass auch wir bloß Vorläufige sind. Unsere ach so stolze Art Homo sapiens sapiens wird irgendwann ebenso untergehen wie so viele andere Spezies zuvor. Machen wir uns klar: Wir mühsam aufrecht gehenden „nackten Affen“ sind ganz gewiss nicht die „Krone der Schöpfung“, sondern bloß die „Neandertaler von morgen“. Etwas größere Bescheidenheit würde uns gut tun…

Ich möchte diesen Beitrag (und damit auch dieses Erkenntnisduell) mit einem Auszug aus „Jenseits von Gut und Böse“ beschließen, der, wie ich meine, recht gut die „frohe Botschaft“ beschreibt, die das Einstein-Paradigma für uns „nackte Affen“ bereithält:

(…) Wir müssen uns die Welt nicht schönreden, um sie als schön zu empfinden. Wir können etwas bewegen, ohne „unbewegte Beweger“ zu sein. Wir können frei sein, ohne Willensfreiheit zu unterstellen. Wir können für Gerechtigkeit sorgen, ohne selbstgerecht zu werden. Wir können uns selbst helfen, indem wir anderen helfen, selbst glücklich sein, indem wir glücklich machen. Wir können vergeben, statt vergelten, können Kritik als Geschenk begrüßen, statt vor ihr zu flüchten. Wir können unserem Leben einen Sinn geben, der sinnlich erfahrbar ist, und nicht übersinnlich herbeihalluziniert werden muss. Wir können unser Selbst verwirklichen, indem wir es überwinden. Und wir können daran arbeiten, der zu werden, der wir sein könnten, statt uns dafür schuldig zu fühlen, der zu sein, der wir sind.

 (…) Als Adam und Eva das zweite Mal vom Baum der Erkenntnis aßen, so lautet die neue unbiblische Legende, da erkannten sie die Nichtigkeit von Gut und Böse und fielen zurück in den Stand der Unschuld. So konnten sie zurückkehren in den Garten Eden, der zwar kein Paradies war, aber doch eine schöne ökologische Nische für aufrecht gehende Affen bot. Über ihren alten Wunsch, gottgleiche Wesen zu sein, konnten Adam und Eva nur noch lachen. Sie waren glücklich ohne Gott und ethisch ohne Moral. Die alte Schlange Eitelkeit riss sie nicht mehr aus dem Schlaf. Sie hatten sich endlich damit abgefunden, bloß vorübergehende Lebensformen auf einem Staubkorn im Weltall zu sein. Gewiss: Ihr Leben war nicht immer leicht. Misserfolg, Krankheit, Tod waren ihre ständigen Wegbegleiter. Doch sie versuchten, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Schließlich wussten sie: Ein besseres Leben als dieses würde es nicht geben. Sie hatten nur diese eine Chance. Und sie wollten sie so gut nutzen, wie es irgend möglich war. Gestärkt von den neuen Früchten vom Baum der Erkenntnis schlugen sie einen neuen Weg jenseits der alten Trampelpfade ein, einen Weg jenseits der Illusionen, jenseits von Gut und Böse, jenseits von Schuld und Sühne. Manch einer hielt sie für verrückt. Aber das machte ihnen nichts aus. Denn sie fanden ihr Glück in der neuen Leichtigkeit des Seins.