Buch 13: Atheistische Argumentationshilfen

Erkenntnisduelle. Aktuelle Konfliktthemen.

Diskurs 13.01/7


Beitrag von Dr. Winfried Krakau
Willensbildung als informationeller Prozess

Vorbemerkungen zur atheodoc-Diskussion: „Gibt es einen freien Willen?“

Da treten zwei Männer (typisch) zu einem „Duell“ an, die eigentlich gleiche Ziele verfolgen. Ein Duell kann verletzen. Sie bekämpfen beide die Macht der Religionen und Kirchen. Der eine, Paul Schulz, ist geprägt von einem persönlich schweren Kampf vom Glauben zum Atheismus und steht für die autonome Selbstverantwortung des Menschen kontra angemaßter Autorität der Kirchen; er ist zornig. Der andere, Michael Schmidt-Salomon, mit völlig anderem Lebenslauf, geht ironisch und satirisch, trotzdem nicht weniger ernst und scharfsinnig einen ähnlichen Weg; er ist heiter und voller Leichtigkeit.

Schulz holt historisch weit aus, bemüht neueste Erkenntnisse der Neurologie und kommt am Schluss zu der Erkenntnis:
„Der befreite Wille ist die eigenständige Entscheidung des Ich-Bewusstseins auf ein konkretes Handlungsziel in der Zukunft hin. Er ist Ausdruck autonomer Selbstverantwortung und damit höchster Individualität“.

Schmidt-Salomon hält es mit Albert Einstein und Arthur Schopenhauer und formuliert:
„Jeder von uns kann nur der sein, der er aufgrund innerer und äußerer Notwendigkeiten sein muss“.

Ich denke mit diesen Statements kann noch lange nicht Schluss sein. Es sind auch keine unversöhnlichen Gegensätze. Gesellschaftliche Folgerungen sind angesagt. Schulz bekämpft berechtigt die Bevormundung durch „Autoritäten“ (Gott und Kirche), und setzt sich leidenschaftlich für Selbstverantwortung ein. Schmidt-Salomon zielt auf die Leichtigkeit des Daseins und auf einen entspannten Umgang mit dem Anderen. Beide wollen eine humane aufgeklärte Gesellschaft. Daraus ergeben sich in Politik und Gesellschaft entscheidende Schlussfolgerungen für das Selbstverständnis des Menschen und seines Zusammenlebens. Somit ist die Diskussion erst eröffnet.

Es geht um die von Immanuel Kant gestellten Fragen:
„Was können wir wissen, was ist der Mensch und was sollen wir tun“?

Mit Ernst Haeckel gesprochen:
„Was ist wahr, was ist gut und was ist schön“?

Vor über 50 Jahren, in meiner Jugendzeit, hieß es:
„Ich will, das Wort ist mächtig, spricht`s einer ernst und still,
die Sterne holt`s vom Himmel, das kleine Wort ich will“.
Damals galt: streng dich nur an, du kannst alles erreichen, wenn du nur willst.

Die Anstrengung ist geblieben, aber heute weiß ich, dass unser sogenannter „freier und starker Wille“ auf einem neuronalen Konstrukt in meinem Körper beruht, welches sich im Laufe meines Lebens aus unzähligen Einflüssen gebildet hat. Warum ich dadurch determiniert bin und meine und des Universums Zukunft trotzdem aus der Gegenwart nicht voraussagbar ist, versuche ich in Folgendem zu begründen.

Hier zunächst eine erste Skizze meiner Erfahrungen: „Der Mensch ist zum Handeln gezwungen, um sich in der Welt zu behaupten. Sein „Werkzeug“ bzw. Organ dazu ist das neuronale Informationsmuster in seinem Gehirn. Diese Fähigkeit teilt er mit anderen. Er ist nicht autonom. Er bildet eine Art und ist daher zum Untergang verurteilt, wenn er nicht Wege findet, die ihn und seine Art erhält. Seine Erkenntnisfähigkeit gegenüber der Kausalität im Kosmos ist der Weg. Erkenntnis bildet sich kumulativ über das Individuum hinweg. Sie nimmt schrittweise im Leben des Einzelnen zu wie auch in der Abfolge der Generationen und ist begrenzt. Sie wird im Zuge der Handlungen einzelner manifest, ist stets unvollkommen und führt nur in Schritten voran. Endgültige Gesetze kann sie nicht finden, sie ist im wahrsten Sinne immer nur eine unscharfe Näherung. Einen von der Naturgesetzlichkeit„befreiten Willen als Ausdruck höchster Individualität“ wie Paul Schulz formuliert, kann es streng genommen nicht geben“. Der Wille ist weder ein Subjekt noch ein Objekt.

Der Wille ist als informationeller Prozess der Naturgesetzlichkeit unterworfen.
Wenn der Einzelne offen bleibt für Erkenntnisse anderer, kann er seine stets begrenzte „Autonomie“ erweitern. Wenn der Willensvorgang des Einzelnen im Augenblick des Tuns aktiv wird, ist er durch die augenblicklich gegebene Erkenntniss-Matrix gebunden. Erst die Fähigkeit zur Korrektur der zugrundeliegenden Erkenntnisse (Probe aufs Exempel), angesichts unerwünschter Handlungsergebnisse, „befreit“ für einen kurzen Moment und kann zur Stabilisierung des labilen Lebens und seiner Optimierung dienen. So geht es fort in unendlicher Reihe: Tun-Bewertung-Korrektur-Tun-Bewertung-Korrektur usw. So schwingt der Mensch innerhalb seiner biologischen und gesellschaftlichen Grenzen und hält sich in der Balance seines und des ihn umgebenden Lebens.

 

DETERMINANTEN DES MENSCHEN UND OFFENHEIT DES KOSMOS
aus monistisch-naturalistischer, ganzheitlicher Sicht.

Determinanten
Determinanten sind Bestimmungsgrößen einer Struktur. Sie sind nach Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen gekoppelt. Die Koppelung erfolgt, weder bei Lebewesen noch sonst  linear, sondern geschieht netzartig, multikausal und auch rückwärts wirkend. Nahezu unabänderlich sind genetische Determinanten, sie fallen uns zu (Epigenetische Faktoren von außen beeinflussen dennoch auch diese Strukturen). Kulturelle Determinanten (Meme) entstehen und wirken dagegen immer komplex und ändern sich ständig. Dadurch, dass sie sich unentwegt gegenseitig beeinflussen und auf Nützlichkeit im Organismus abgeglichen werden, bilden sie keine statischen, sondern hochdynamische Regelungsgrößen. Ihre Wirkung nimmt mit zunehmendem Alter ab. Die tiefste Prägung ergibt sich im Kindes- und Jugendalter. In dieser Zeit bilden sich im Gehirn durch individuell orts- und zeit-typischen Gebrauch stabile neuronale Netze aus, die zu Handlungsmustern führen. Diese Netze werden ständig im Laufe des Lebens durch neue Erkenntnisse und Dazulernen umorganisiert und passen sich damit den veränderten Bedingungen an. „Das Bessere ist der Feind des Guten“.

Kein freier Wille
These 1: Das Universum ist ein dynamisches Gebilde, das als gesamtes großes strukturiertes System nach strengen Naturgesetzen evolviert. Diese beruhen auf der Relativitätstheorie (im Großen) und der Quantentheorie (im Kleinen), weiterhin auf der Gravitation, der elektromagnetischen Kraft sowie den starken und schwachen Kernkräften. Es evolviert wegen seiner unendlich vielen unterschiedlichen, geschichteten (emergenten) Strukturen, die multikausal  vernetzt sind. Es zeigt sich uns makroskopisch als Materie und Energie sowie an deren Strukturen gebundener Information. Evolution ist zielsuchend, dabei zufällig und nicht zielführend.

These 2: Der Mensch ist, wie alles Leben, ein integraler Bestandteil dieses Universums; er kann nicht herausgelöst gedacht werden.

These 3: Daher evolviert auch der Mensch nach strengen Naturgesetzen. Er bildet keine Ausnahme.

„Nach ewigen ehernen Gesetzen müssen wir alle unseres Daseins Kreise vollenden“,

wie es Goethe formuliert. Diese Gesetze sind, was unser Gehirn betrifft, unendlich kompliziert, und dadurch sehr wahrscheinlich in ihrer Ganzheit nicht erkennbar.

These 4: Der Mensch fühlt sich trotzdem mit einem freien Willen und freier Handlungsmöglichkeit ausgestattet. Damit glaubte  er lange Zeit, außerhalb bzw. über den Naturgesetzen zu stehen. Schon Arthur Schopenhauer erklärte dagegen:

„Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“

Wie kann man diesen Widerspruch auflösen?

These 5: Der Mensch muss handeln, also tun, um zu überleben. Er entnimmt zu diesem Zwecke aus seiner Umgebung Materie und Energie. Beide sind strukturiert, wie alles im Universum. Die Strukturen interagieren durch ihre besondere Form (Information). Dadurch fließt ihm Information zu, wie er auch Information abgibt. Diese verändert ihrerseits die Umgebung. In Gesellschaften entsteht eine Sonderform der Information: die gesprochene und vor allem die aus Zeichen bestehende Sprache. Über sie entnimmt der Einzelne aus dem Gedächtnis der Menschheit Wissen. So ist er unlöslich ein orts- und zeitgebundener Teil des Universums, insbesondere seiner Gesellschaft, also determiniert.  Nur im Rahmen seiner  Möglichkeiten kann er handeln, sprechen und schreiben.

These 6: Die Fühlung der Willensfreiheit und des Selbstbewusstseins sind Spiegelungen im Gehirn und nur dem Subjekt zugänglich. Direkte Zugänge zum Wollen und dem Selbst eines Anderen gibt es nicht. Sie sind evolutionär im Zuge der Vergesellschaftung entstanden. Der Mensch erkennt erst im Laufe seines Lebens durch den anderen, dass er ein Selbst ist und dass er handelnd, redend und schreibend Folgen verursacht, die er zu verantworten hat. Erkennt er das nicht, muss ihn die Gesellschaft aus ihrer Schutzbefugnis für alle dazu zwingen.

These 7: Der handelnde Mensch fühlt sich als Subjekt. Er schreibt sich selbst die Folgen seiner Handlung zu. So erlebt er sich als Akteur. Er fühlt Verantwortung und nicht die Vergeblichkeit und Fremdbestimmtheit seines Tuns. Diese würden ihn zum Nichtstun und damit zur Aufgabe seiner selbst verleiten können, wären also lebensfremd. Der unbedingte Trend allen Lebens setzt sich so in ihm durch

Leben ist Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will“

sagt Albert Schweitzer. So entsteht der gefühlte Wille des handelnden Subjekts aus der objektiven Realität des holistischen Ganzen. Dieses zwingt ihn, sich evolutiv zu behaupten.

These 8: Der Mensch ist prinzipiell zur Erkenntnis der Kausalität, sowie zur Erweiterung und  Weitergabe seiner Erkenntnisse fähig. Dadurch kann er Vorgänge im Kosmos für sich nutzen und vorausschauen. Allerdings sind ihm dabei natürliche Grenzen gesetzt; Schwierigkeiten gibt es durch seine begrenzten Sinne, sowie bei starker Vernetzung und komplexen Zusammenhängen. So kann er oft nur Hauptursachen erkennen und muss, nichterkannte oder nichterkennbare Nebenursachen vernachlässigen. Diese Fähigkeit zur relativen fortschreitenden Erkenntnis führte ihn im Laufe einer langen geistigen Entwicklung zu seiner hohen kulturellen Entwicklung und notwendig zur Frage der Erkenntnis seiner selbst als Naturwesen.

These 9: Allmählich gelangt er zur Einsicht, dass die gefühlte Unabhängigkeit und Individualität im Universum eine nützliche Illusion ist. Er besitzt keine Willensfreiheit. Er ist vielmehr einer sich im Laufe seines Lebens herausbildenden multikausalen, sich ständig anpassenden, also dynamischen Handlungsmatrix innerhalb seines Körpers und insbesondere seines Gehirns unterworfen.

Diese befähigt ihn zur nachträglichen Korrektur seiner Handlungen.

These 10: So muss er nun ein neues Verständnis seiner Existenz finden, und sich in Bescheidenheit, besonders gegenüber seinen Mitmenschen, üben. Das aber heißt, seine Subjektivität als im Ganzen seiner Gesellschaft und des Kosmos aufgehoben erkennen, ohne zu verzweifeln. Subjekt und Objekt fließen ineinander, sie sind nicht trennbar.

Wirkung der Determinanten
These 1: Die genetische informationelle Struktur jeder einzelnen Zelle in uns enthält die stammesgeschichtlich evolutionär entstandene Überlebensstrategie unserer Art. Sie bildet unseren Körper und die daraus folgende Grundstruktur unserer Psyche. Wir erben sie von unseren Eltern als Zufallskombination. Sie geht als Grundschicht  in unsere Handlungsmatrix ein. Innerhalb der Lebenszeit erneuern und erweitern sich permanent auf dieser Basis die Zellen unseres ganzen Körpers. Die Struktur des Körpers, sein informationeller Bestand,  bleibt trotzdem erhalten.

These 2: Auf dieser Grundschicht wird die Handlungsmatrix in kleinsten Schritten (differentiell) während des ganzen Lebens kontinuierlich erweitert, angepasst, ständig umorganisiert und integriert. Das erfolgt durch einen ununterbrochenen Informationsstrom, der von unseren Sinnen aufgenommen wird. Die Sinnesreize kommen aus dem Inneren unseres Körpers (Organe) sowie aus dem gesamten natürlichen und gesellschaftlichen Umfeld des Menschen. Die verändernde Ausprägung der Grundstruktur erfolgt so durch unsere Sozialisierung, die Zeichensprache usw., also durch unseren zufälligen Lebenslauf im Kosmos. Die Zielsuche unseres Körpers richtet sich dabei allein auf die Aufrechterhaltung der individuellen körperlichen und psychisch-gesellschaftlichen Balance. Dabei schichtet sich die Handlungsmatrix anpassend, zu nahezu unendlich großen Strukturen ständig um.

These 3: Dieses informationelle Gefüge (Handlungsmatrix) aus unzähligen Einflüssen speichert, überschreibt, ordnet ständig neu und löscht unser ganzer Körper ständig elektrochemisch im Nervensystem,  insbesondere im neuronalen Geflecht des Gehirns. So reagiert der Körper weitgehend autonom, problemlösend, sozusagen im „unbewussten organischen Können“ (Erwin Schrödinger, in „Mein Leben, meine Weltansicht“); ihm folgen wir unabdingbar und er fällt auch unsere Handlungsentscheidungen. Dabei geht es ihm immer um das Überleben oder zumindest um Lustgewinn.

These 4: Diese Handlungsmatrix ist keine starre Anweisung, sondern ein dynamischer Komplex, der sich solange wir leben ständig „bewusst organisch lernend“ (Erwin Schrödinger in „Mein Leben, meine Weltansicht“) differentiell erweitert. Dabei kommt es immer wieder auch zu Fehlentwicklungen. Wenn diese nicht korrigiert werden, geht der Mensch zu Grunde.

Die Fähigkeit zur Korrektur ist unabdingbar lebenserhaltend.

These 5: Dieses Schicksal teilen wir mit allen Menschen und Lebewesen, und sind dadurch mit ihnen in der gleichen Verstrickung verbunden. So können wir, in der Illusion eines freien Willens lebend, mit anderen am „Spiel des Lebens“ teilnehmen. Dieses müssen wir akzeptieren ohne zu verzweifeln. Mehr geben die Spielregeln des Universums nicht her.

Keine Vorherbestimmung
Es erhebt sich nun die Frage, ob aus dieser Erkenntnis der allgemeinen Determination aller Vorgänge Vorherbestimmung unseres Lebens und des Universums folgt. Das muss man verneinen und kann man wie folgt begründen:

These 1: Dadurch, dass alle unterscheidbaren Teilsysteme (also auch der Mensch) im Universum evolvieren, indem sie miteinander interagieren müssen (Goethe sagt sinngemäß: „Es ist kein Stillehalten in der Natur“), bilden sich immer neue, zufällige nicht voraussehbare Konfigurationen als Möglichkeitsfelder durch multikausale Vernetzung. Der Mensch kann aus ihnen einen Zuwachs an Erkenntnis erlangen und somit seine Determinanten im Nachhinein begrenzt beeinflussen.

These 2: Die daraus resultierenden Handlungen werden in der Lebenswelt mit der Unerbittlichkeit der chemisch-physikalischen Gesetze lebendiger Strukturen konfrontiert  und vom gesamten Biosystem, einschließlich seiner gesellschaftlichen Faktoren, entweder erhalten oder verworfen. Aus der Wirkung und der Rückwirkung seiner Handlungen lernt er.

These 3: Die Unschärfe von „Elementarteilchen“ in der Quantenwelt wird oft als Ursache von Freiheit in der Natur angesehen. Sie hängt jedoch mit der Grobheit unserer Sinne und Untersuchungsinstrumente zusammen. Trotzdem gibt es nur eine Wirklichkeit, die sich allerdings im ganz Großen so wie im ganz Kleinen letzter Erkenntnis entzieht. So ergibt sich auf Grund der ungeheuer großen Zahl von Quantenereignisseninnerhalb eines Prozesses in der nächsten Ebene des Seins (in der uns zugänglichen makrophysikalischen Realität) Kausalität mit gegen Unendlich gehender Wahrscheinlichkeit. So wird auch das menschliche Gehirn in seinem materiell-energetisch-informationellen Zustand von hochgradig vernetzten kausalen Determinanten bestimmt. Eine Trennung in zwei unabhängige Bereiche der Wirklichkeit (Makro oder Mikro, bzw. Materie/Energie oder Geist) ist naturwissenschaftlich nicht zulässig und führt zum Dualismus. Elementarteilchen sind auch keine Stoffe, sondern, wie Hans Peter Dürr formuliert, sogenannte „Wirks“ (immaterielle Kleinstprozesse). Er sagt:

„Die indeterminierte Naturgesetzlichkeit im Mikroskopischen ist demzufolge so verfasst, dass im statistischen Mittel makroskopisch die uns wohlbekannten klassischen Naturgesetze herauskommen“.

Kausalität gilt also indirekt auch hier.

These 4: Die Zahl der dabei im Spiel des Zufalls informationell beteiligten Determinanten aller Teilsysteme geht gegen Unendlich. Im Moment des Werdens, des Tuns, sind der bevorstehende Schritt der Evolution und seine Folgen daher nicht vorauszusehen. Es besteht eine Übergangsblindheit beim Sprung von der Gegenwart zur Zukunft. Im Nachhinein könnte jedoch stets von einem „allwissenden Dämon“ das zugrundeliegende kausale Gesetz beschrieben werden.

These 5: Das Werden erschließt und variiert auf diese Art unaufhörlich  Möglichkeitsfelder, und so bleibt für das Universum und den Menschen die Zukunft offen.

Der Mensch kann zwar Möglichkeiten voraussehen, aber im Werden bindet er sich an die ihm momentan gegebenen Determinanten.

Manchmal erkennt er allerdings und seufzt: „Das habe ich nicht gewollt.“ Absicht und Folge sind selten völlig identisch. Rückkoppelnde, suchende Prozesse lenken so die Evolution ständig in neue, nichtvorhersehbare Richtungen ab; analog einer allmählichen Drift evolviert alles. Theilhardt de Chardin spricht bildlich von einer:

„Strömung, oder ertasteten Erfindung eines neuen vorteilhaften Typus“.

These 6: Letztlich ist Hingebung in das sich selbst korrigierende und organisierende Leben unsere Aufgabe und Chance. Das beschämt uns, macht uns bescheiden und kränkt unsere Eitelkeit. Daher dichtet Bert Brecht um uns aufzurichten:

Schlage die Trommel und fürchte dich nicht“.

Übrig bleibt die Erkenntnisfähigkeit und Fähigkeit zur Korrektur gegenüber unserer Außenwelt. So können wir gemeinsam unsere  Lebensbedingungen optimieren, indem wir im „organischen Können und Lernen“ aller Menschen zu einer naturwissenschaftlichen Gesamtsicht des Universums gelangen. Letztendlich finden wir so vorteilhaftere Erkenntnisse und Zustände unseres Lebens. Dazu ist es erforderlich, dass der einzelne Mensch auch gegenüber seinen Mitmenschen offen bleibt, ihn in seiner Determiniertheit akzeptiert und dessen Determinanten mit den seinen abgleicht und optimiert. Argumente zählen, Glaube führt zu keinen Lösungen. Thesen und Antithesen fügen sich zu Synthesen. Prüfstein der Wahrheit ist immer die Praxis. Auf diesem Wege ist indirekt, durch Spiegelung im anderen, auch eine begrenzte „Selbsterkenntnis“ möglich.

Tat tvam asi : das bist auch du“,

wie in fernöstlicher Weisheit formuliert ist.  Die „suchende  Evolution“ des Universums wird dadurch um unsere Möglichkeiten erweitert.

Wo bleibt bei all dem das „Ich“?
Das Ich ist lediglich ein sprachlicher Ausdruck für unser Selbst. Die Sprache subjektiviert und suggeriert eine Eigenständigkeit, die nicht existiert. Ein Ich, welches als eigene Willenskraft oder Seele in uns agiert, gibt es nicht. Unser Körper und insbesondere das Gehirn erledigen alles selbständig. Wir erfinden lediglich Begriffe und Wörter für die uns gegebenen Prozesse, um sie zu handhaben. Dass wir uns zunächst eigentlich als fremd empfinden, zeigt sich im Kindesalter. Kleinkinder sagen zunächst nicht ich will das haben, sondern einfach haben, oder reden in der dritten Person von sich: Paul haben. Die Selbstanrede Ich kommt erst später, wird auf das selbständige organische Geschehen sprachlich aufgesetzt, ist künstlich und damit kein Beweis für seine reale Existenz.

Das Ich ist somit lediglich eine Bezeichnung für diesen einen Körper als eine zufällig entstandene hochkomplexe Struktur, welche aus Milliarden Jahre  dauernder Evolution des Lebendigen entstanden ist. Sie hat keine wirklichen Grenzen, sondern ist verwoben mit den sie umgebenden Strukturen, die wir nur künstlich mit unseren groben Sinnen, unserem fehlerbeladenen Denken und mängelbehafteten technischem Gerät aus dem ganzheitlichen Zusammenhang herauslösen können. In Wirklichkeit ist sie mit allem darum herum Existierenden informationell unlösbar verkettet durch eine Vielzahl von Kleinstprozessen (Wirks, Determinanten) inklusive auf und in uns existierenden Kleinstlebewesen  (Bakterien, Viren usw.). So hält sie sich reagierend und balancierend solange es geht am Leben.

„Dieses weitere Ich hängt schon mit unserem ganzen Leib, ja nicht minder mit dem Leib unserer Eltern zusammen… und dieses ist dann von der ganzen Welt nicht mehr trennbar“: (Ernst Mach in „Erkenntnis und Irrtum“).

Am Anfang seines Lebens übernimmt der Mensch Erfahrungen und Erkenntnisse von  Vorfahren und Erwachsenen, und belädt sich damit wie ein Kamel seine Last trägt (siehe Friedrich Nietzsche in „Reden des Zarathustras“ Anlage 1). Später, mündig geworden, erkennt er, dass ihm seine Eltern Lasten auferlegt haben, die er nicht tragen mag. Nun sucht er seine Freiheit im Probieren und Denken, denn seine Lebenswelt ist nicht mit der seiner Eltern identisch. Sie hat sich durch deren Handeln verändert und ist dadurch für ihn neu und anders. Die alten Rezepte (Determinanten) gelten für ihn nicht mehr. Er muss, um zu überleben, neue Wege suchen. Bald glaubt er diese gefunden zu haben und stellt doch im Alter fest, dass auch er für seine Nachkommen keine perfekte Lebensmaxime überliefern kann. Die Evolution schreitet über ihn hinaus. So wird er, der Stolze, bescheiden, und erkennt im Spiel des Lebens die Unerkennbarkeit der Zukunft. Aus all diesem ergibt sich für mich folgendes

Plädoyer für ein neues Menschenbild
Der Mensch wird von seinem Eigennutz zu Handlungen getrieben, die sein Überleben und seine Balance sichern. Das jeweilige Feld seiner Möglichkeiten ist orts-, zeit- und personengebunden. Die Determinanten seines Lebens, resultierend aus den Genen sowie dem natürlichen und gesellschaftlichen Umfeld, zwingen ihn zur Wahl der Mittel. So scannt sein Gehirn informationell mit Hilfe der Sinne sich selbst und das Umfeld ab, um handelnd zu überleben.  Außerhalb der Kausalität ist das nicht möglich, sonst wäre jede Handlung ein Wunder. Die kausal in seinen Organen gegebene Entscheidungsfähigkeit ist daher, auf der Grundlage des sich bildenden Selbstbewusstseins, zwangsläufig mit der Entstehung von Illusion verbunden. Die  Komponenten seines Lebens befinden sich in einer Informations-Matrix im Gehirn.

Die „Welt des Geistes“, im Individuum als auch in der Gesellschaft, lässt sich so  makrophysikalisch als materiell-energetisch-informationeller Prozess erklären. Sprache stellt sich dabei als physikalisch gebundenes Zeichensystem dar. Das unterscheidet den Menschen vom Tier. Das Tier kommuniziert wie auch der Mensch nonverbal. Nur der Mensch kann Zeichen benutzen (Buchstaben, Zahlen, Formeln, Noten, Kartenzeichen usw.), um zu interagieren, Erkenntnisse weiterzugeben und aufzubewahren.

Ausgestattet mit diesen Erkenntnissen steht die Menschheit vor der Aufgabe, neue humane Lösungen für ihre Existenz zu finden. Das zufällig entstandene, notwendig egoistische Individuum mit seiner Fehlerhaftigkeit kann und darf nicht der alleinige Maßstab menschlichen  Lebens sein (kapitalistische Sichtweise). Der Andere ist sein Korrektiv und  Partner, und ist als Determinante in ihm enthalten. Da jeder Einzelne sich nur im anderen erkennen kann, führen der biologische Egoismus und der gesellschaftliche Altruismus mit Hilfe der kausalitätsbegreifenden Vernunft zwingend zu einer friedlichen solidarischen Haltung und zur Bescheidenheit. Keiner ist in seiner Individualität autark. Der höchste Wert ist die Mitmenschlichkeit und nicht die Freiheit des Individuums. Karl-Heinz Deschner begründet das in einer Rede anlässlich seines 80sten Geburtstages so:

„Denn alle Schaffenselemente sind Dotationen von fernher, von Ahnen, von Ungezähltem, das auf sie wirkte, von Leuten, Völkern, nie von uns erblickten Landschaften, nie erfahrenem Erleben, Alle Faktoren der Intelligenz, Kreativität, des Fleißes, die Fähigkeit zu reagieren oder nicht oder so und nicht anders, all dies und tausend mehr ist bekanntlich Ergebnis dessen, was in uns angelegt und zumal in früher Kindheit beeinflußt worden ist, wobei sowohl das Vererbte wie das durch Erziehung Bedingte gleichmächtig die Programmierung der Gehirnfunktionen bestimmt.“

„Unser Wille ist also kein besonderes Seelenvermögen, dies der einhellige Befund führender Neurowissenschaftler, ist nicht die treibende Kraft unserer psychophysischen Aktivitäten, sondern ein Konstrukt. Er ist stark oder schwach, doch stets vorgeprägt, stets abhängig von Reiz und Reaktion, dem unheimlich komplizierten Zusammenspiel nervaler Geflechte im Hirn, von Neuronen, Fibrillen, Synapsen; er ist nie ursachlos, vielmehr, wie anderes Naturgeschehen – ein Axiom szientifischer Forschung – dem Kausalgesetz unterworfen.“

Damit bekennt er z.B., wie auch ich, dass begabte, reiche und dadurch mächtige Menschen gegen die Vielen keine Sonderrechte haben, sondern erkennen müssen, dass sie zur Solidarität verpflichtet sind. Ihre Fähigkeiten sind viel weniger ein Eigenverdienst als sie glauben und behaupten. Zunächst hat demnach jeder uneigennützig seine ihm zufällig zugeteilte Begabung für alle einzusetzen. Sein unterschiedlicher Anteil aus dem gemeinsam erarbeiteten Sozialprodukt ist anzuerkennen, aber monetär demokratisch zu begrenzen. Auch Staaten mit günstigen natürlichen Bedingungen müssen ihren Reichtum mit allen Völkern teilen und sorgsam mit den Schätzen der Natur umgehen. Vor allem kann niemand sich auf einen Gott berufen, der ihn exklusiv mit all dem ausgestattet hat.

„Jede höhere geistige Kultur kann nur in der geselligen Vereinigung gedeihen, nur wenn ein Teil für den Andern Lasten übernimmt. Möchten die *obersten Zehntausend* klar erkennen, was sie dem arbeitenden Volk schulden“: (Ernst Mach in „Erkenntnis und Irrtum“).

Worauf kommt es an? Im Gegensatz zum Tier ist der Mensch nicht nur in der Lage zu lernen, sondern er hat die Fähigkeit, das Gelernte in Sprache weiterzugeben und sich zu korrigieren. Er kann seine Determinanten ergänzen und verändern, in dem er sein Möglichkeitsfeld durchmustert. So kumulieren die schrittweisen Erkenntnisse aller und geben jedem Individuum eine Startbasis für sein Leben. Nunmehr ist das Individuum verpflichtet, seinerseits nach Kräften zu den Erkenntnissen beizutragen und die ihm gegebenen Begabungen und Fähigkeiten für alle einzusetzen. Das ihm zur Verfügung stehende „Werkzeug“ ist das neuronale Muster in seinem Gehirn, es befähigt ihn zu rationaler Vernunft. Sie allein bringt ihn voran; mit ihr kann er die im Kosmos vorhandene Kausalität zur Gestaltung seines Lebens nutzen. Er hat die Pflicht zu arbeiten und die Gesellschaft hat die Pflicht ihm das zu ermöglichen. Kritische wissenschaftliche Vernunft, Bescheidenheit und Disziplin sowie Arbeit für das Ganze sind notwendige Kriterien einer modernen Erziehung.  Immanuel Kant sagt in „Über Pädagogik“:

„Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung.
Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“

„Die Erziehung unserer Kinder zu dem Glauben, dass sie Christen, Muslime oder Juden seien,…ist eine aberwitzige Schamlosigkeit“: (Sam Harris in „Brief an ein christliches Land“)

Es sind in das kindliche Gehirn eingearbeitete Determinanten, die den Erwachsenen später leiten. Daher ist es zum Beispiel unverantwortlich, Religionsgemeinschaften Weltbild- und Moral-Erziehung zu überlassen. „Glaubenswahrheiten“ sind nicht überprüfbar. Dem jungen Menschen ist begreiflich zu machen, dass er ohne naturwissenschaftliches Wissen keine Chance im Leben hat und dass er für seine Taten nicht vor Göttern, sondern vor seinen Mitmenschen Verantwortung übernehmen muss. Schuld lädt er dadurch nicht auf sich, wie Religionen behaupten; und eine Erbschuld, die jemand für alle auf sich nehmen könnte, gibt es schon gar nicht. Das begründet auch eine neue verstehende Behandlung sogenannter Untaten.

So erweist sich auch hier Ernst Haeckels Weitsicht, in dem er, ausgehend von den drei monistischen Kultusidealen (Das Wahre, das Gute und das Schöne), ein modernes Erziehungssystem formuliert (siehe auch W. Krakau: Diskurs 01.15 „Das monistische Weltbild“ und „Ernst Haeckel“, Aachen 2011)

Als Wahres gelten für Haeckel allgemeingültige menschliche Erkenntnisse, die naturwissenschaftlich belegt und auch gegebenenfalls falsifiziert werden können. Sogenannte „Glaubenswahrheiten“ gehören nicht dazu, sie sind schon allein durch ihre Unterschiedlichkeit und Absolutheitdisqualifiziert und trennen dadurch seit Jahrtausenden  heute noch die Menschen in feindliche Gruppen. Religionen gehören zur Gattung der Kunst (Dichtung, Malerei, Bildhauerei, Architektur und Ritual-Gestaltung). Daraus folgt auch, dass Religionsunterricht nicht als Wahrheitsfindung in unsere Schulen und Universitäten gehört.

Als Gutes erweisen sich nicht die unterschiedlichen göttlichen Gebote der Religionen, sie sind archaischen Ursprungs und teilweise menschenrechtswidrig; die Gegenwart erfordert neue, rational begründete Lösungen. Es gilt, dass alles, was jedermann für sich und andere für vernünftig halten kann, gut ist; über allen möglichen Lösungen steht das „goldene Sittengesetz“:

„Was du nicht willst, das man dir tu`, das füg` auch keinem andern zu“

Das  Schöne ist das, was jedermann vor allem in seiner Natürlichkeit und Harmonie berührt. In der Kunst ergänzt die Schönheit damit die Vernunft und schafft phantastische Gefühlswelten. Hier haben auch Religionen ihren Platz im Privaten. Zur Regelung gesellschaftlicher Verhältnisse taugen sie nicht, da sind Vernunft und Rationalität gefragt.

Friedrich Nietzsche sagt zwar pessimistisch in „das Pathos der Wahrheit“ (Anlage 2):

„Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntnis, denn sie will das Leben.“

Dem ist entgegenzuhalten:
Durch Vernunft und Erkenntnis aller überlebt der Mensch, weil sie Kausalität und Illusionen aufdecken; die Kunst bringt Schönheit ins Leben;
diese drei gemeinsam „wollen“ das Leben.

Anlage 1

  • „Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie der Geist zum Kamele wird, und zum Löwen das Kamel, und zum Kinde zuletzt der Löwe. Vieles Schwere gibt es dem Geiste, dem starken, tragsamen Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schweren und Schwersten verlangt seine Stärke.
  • Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kamele gleich, und will gut beladen sein.
  • Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der tragsame Geist, dass ich es auf mich nehme und meiner Stärke froh werde.
  • Ist es nicht das: sich erniedrigen, um seinem Hochmut wehe zu tun? Seine Torheit leuchten lassen, um seiner Weisheit zu spotten?
  • Oder ist es das: von unserer Sache scheiden, wenn sie ihren Sieg feiert? Auf hohe Berge steigen, um den Versucher zu versuchen?
  • Oder ist es das: sich von Eicheln und Gras der Erkenntnis nähren und um der Wahrheit willen an der Seele Hunger leiden?
  • Oder ist es das: krank sein und die Tröster heim schicken und mit Tauben Freundschaft schließen, die niemals hören, was du willst?
  • Oder ist es das: in schmutziges Wasser steigen, wenn es das Wasser der Wahrheit ist, und kalte Frösche und heiße Kröten nicht von sich weisen?
  • Oder ist es das: die lieben, die uns verachten, und dem Gespenste die Hand reichen, wenn es uns fürchten machen will?
  • Alles dies Schwerste nimmt der tragsame Geist auf sich: dem Kamele gleich, das beladen in die Wüste eilt, also eilt er in seine Wüste.
  • Aber in der einsamsten Wüste geschieht die zweite Verwandlung: zum Löwen wird hier der Geist, Freiheit will er sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen Wüste.
  • Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: feind will er ihm werden und seinem letzten Gotte, um Sieg will er mit dem großen Drachen ringen.
  • Welches ist der große Drache, den der Geist nicht mehr Herr und Gott heißen mag? »Du-sollst« heißt der große Drache. Aber der Geist des Löwen sagt »ich will«.
  • »Du-sollst« liegt ihm am Wege, goldfunkelnd, ein Schuppentier, und auf jeder Schuppe glänzt golden »Du sollst!«
  • Tausendjährige Werte glänzen an diesen Schuppen, und also spricht der mächtigste aller Drachen: »Aller Wert der Dinge – der glänzt an mir.«
  • »Aller Wert ward schon geschaffen, und aller geschaffene Wert – das bin ich. Wahrlich, es soll kein ›Ich will‹ mehr geben!« Also spricht der Drache.
  • Meine Brüder, wozu bedarf es des Löwen im Geiste? Was genügt nicht das lastbare Tier, das entsagt und ehrfürchtig ist?
  • Neue Werte schaffen – das vermag auch der Löwe noch nicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – das vermag die Macht des Löwen.
  • Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch vor der Pflicht: dazu, meine Brüder, bedarf es des Löwen.
  • Recht sich nehmen zu neuen Werten – das ist das furchtbarste Nehmen für einen tragsamen und ehrfürchtigen Geist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm und eines raubenden Tieres Sache.
  • Als sein Heiligstes liebte er einst das »Du-sollst«: nun muss er Wahn und Willkür auch noch im Heiligsten finden, dass er sich Freiheit raube von seiner Liebe: des Löwen bedarf es zu diesem Raube.
  • Aber sagt, meine Brüder, was vermag noch das Kind, das auch der Löwe nicht vermochte? Was muss der raubende Löwe auch noch zum Kinde werden?
  • Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen.
  • Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Brüder, bedarf es eines heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist, seine Welt gewinnt sich den Weltverlorene“.

Anlage 2

»In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossnen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der Weltgeschichte, aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mussten sterben. Es war auch an der Zeit: denn ob sie schon viel erkannt zu haben sich brüsteten, waren sie doch zuletzt, zu großer Verdrossenheit, dahinter gekommen, dass sie alles falsch erkannt hatten. Sie starben und fluchten im Sterben der Wahrheit. Das war die Art dieser verzweifelten Tiere, die das Erkennen erfunden hatten«.

„Dies würde das Los des Menschen sein, wenn er eben nur ein erkennendes Tier wäre; die Wahrheit würde ihn zur Verzweiflung und zur Vernichtung treiben, die Wahrheit, ewig zur Unwahrheit verdammt zu sein. Dem Menschen geziemt aber allein der Glaube an die erreichbare Wahrheit, an die zutrauensvoll sich nahende Illusion. Lebt er nicht eigentlich durch ein fortwährendes Getäuschtwerden? Verschweigt ihm die Natur nicht das allermeiste, ja gerade das Allernächste, z. B. seinen eignen Leib, von dem er nur ein gauklerisches »Bewußtsein« hat? In dieses Bewußtsein ist er eingeschlossen, und die Natur warf den Schlüssel weg. O der verhängnisvollen Neubegier des Philosophen, der durch eine Spalte einmal aus dem Bewußtheits-Zimmer hinaus- und hinabzusehen verlangt: vielleicht ahnt er dann, wie auf dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Ekelhaften, dem Erbarmungslosen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtswissens und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend“.

»Laßt ihn hängen«, ruft die Kunst. »Weckt ihn auf«, ruft der Philosoph im Pathos der Wahrheit. Doch er selbst versinkt, während er den Schlafenden zu rütteln glaubt, in einen noch tieferen magischen Schlummer – vielleicht träumt er dann von den »Ideen« oder von der Unsterblichkeit. Die Kunst ist mächtiger als die Erkenntnis, denn sie will das Leben, und jene erreicht als letztes Ziel nur – die Vernichtung.“

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Autor: Dr. Winfried Krakau