Diskurs 13.01/4
2. Runde · Erwiderung
Dr. Michael Schmidt-Salomon
"Falschverstandener Reduktionismus, das Phänomen des virtuellen Selbst und die Illusion der Willensfreiheit"
1. ATHEODOC Erkenntnis-Duell
Hat der Mensch einen freien Willen?
2. Runde 19. November 2012: Erwiderung
Inhalt
1. Teil: Erwiderung auf Paul Schulz
Bedauerlicherweise hat Paul Schulz auch in seinem zweiten Beitrag nicht aufgezeigt, weshalb wir das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ akzeptieren sollten, das die Grundlage der starken Willensfreiheitsbehauptung ist. Noch immer ist es völlig unklar, warum wir annehmen sollten, dass sich eine Person unter exakt den gleichen Bedingungen anders verhalten könnte, als sie sich de facto verhält. Statt eine Begründung für das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ vorzulegen, hat Paul Schulz a) die Leserschaft über die unterschiedlichen Regionen des Gehirns aufgeklärt (die jedem, der sich mit der Willensfreiheitsfrage ernsthaft beschäftigt, bekannt sein dürften) sowie b) sich abfällig über meine Schriften geäußert, die er jedoch allem Anschein nach, wenn überhaupt, nur sehr oberflächlich gelesen hat.
Dies zeigen nicht zuletzt seine „Rückfragen 1“. Dort schreibt er: „Sie haben früher sehr überzeugt einen Reduktionismus vertreten. Heute vertreten Sie überzeugt eine starke, naturalistische Emergenz-Theorie. 1. Was war der wesentliche wissenschaftliche Grund für Ihren Sinneswandel? 2. Konnte man diesen Grund auch schon vor Ihrem Sinneswandel wissen? Wenn ja, warum haben Sie diesen dann nicht schon früher aufgenommen? 3. Sehen Sie die Notwendigkeit, einen weiteren Sinneswandel vollziehen zu müssen, wenn Ihre These von der Makrodetermination nicht reicht? Was könnte dafür dann der wesentliche Grund sein, der heute für Sie nicht gilt?“
Schon die Grundvoraussetzung dieser Fragen ist abenteuerlich falsch, denn der von Paul Schulz beschworene „Sinneswandel“ hat nie stattgefunden! Es ist mir ein absolutes Rätsel, wie Paul Schulz auf die seltsame Idee kommt, ich hätte jemals einen reduktionistischen Standpunkt vertreten, der emergente Phänomene (etwa der Kultur) ausblenden würde! Tatsächlich habe ich stets betont, dass das menschliche Denken, Empfinden und Verhalten nicht allein aus biologischer Perspektive, sondern nur vor dem Hintergrund der kulturellen Evolution verständlich ist, weshalb ich u.a. in der 2007 erschienen Schrift „Auf dem Weg zur Einheit des Wissens“ explizit vor den Gefahren des Biologismus warnte. Biologistisch reduktionistische Denkmuster habe ich in keiner meiner Veröffentlichungen bemüht – selbstverständlich auch nicht in „Jenseits von Gut und Böse“. Nicht ohne Grund beschreibe ich schon im ersten Kapitel dieses Buchs „Kultur“ als den „maßgeblichen 4. Akt im Schauspiel der Evolution“ (S.76). In diesem Zusammenhang lege ich u.a. auch dar, warum die kulturelle Evolution beim Menschen einen so dramatisch anderen Verlauf nahm als die kulturelle Evolution bei unseren nächsten tierischen Verwandten, den Schimpansen, Bonobos, Gorillas und Orang-Utans:
Voraussetzung der kulturellen Evolution sind Lebewesen, die die Fähigkeit besitzen, Neuerungen in ihrem Verhalten einzuführen (Innovationsfreude) und diese an andere Subjekte weiterzugeben (Traditionsbildung). Die Dynamik der kulturellen Evolution wird dabei enorm verstärkt, wenn die Lebewesen zusätzlich in der Lage sind, absichtsvoll zu planen (Intentionalität) und die Welt in abstrakten Zeichen zu repräsentieren (Symbolbildung). Letzteres ermöglicht es, kulturelle Informationen nicht nur direkt von Individuum zu Individuum weiterzugeben (etwa durch Eltern, die ihren Kindern beibringen, „was sich schickt“, beziehungsweise durch Kinder, die ihren Eltern zeigen, was „cool“ oder „uncool“ ist), sondern auch indirekt durch Medien wie Bücher, Zeitschriften, Fernsehen, Radio, Internet etc.
Zwar sind Schimpansen durchaus in der Lage, absichtsvoll zu planen, neue Verhaltensweisen zu entwickeln und diese Neuerungen an andere Subjekte weiterzugeben (siehe hierzu u.a. die Darlegungen von Volker Sommer in: Darwinisch denken. Horizonte der Evolutionsbiologie, 2007), aber sie sind in all diesen Bereichen dem modernen Menschen unterlegen, zudem kamen sie offenkundig auch niemals von selbst auf die Idee, die Welt in abstrakten Zeichen zu repräsentieren (solche Symbolbildungen lernten sie bzw. einige von ihnen erst durch den Kontakt mit Menschen). Die so unterschiedliche Dynamik der kulturellen Evolution bei Mensch und Schimpanse ist vor diesem Hintergrund sehr verständlich, aber worin liegen die biologischen Wurzeln für diese Differenz? Bei der Fahndung nach den Ursachen stießen die Forscher auf einen bemerkenswerten Befund: Menschen unterschieden sich von allen anderen Primaten vor allem durch ihre ausgesprochene Bereitschaft und Fähigkeit zur exakten Imitation, was u.a. eine der Grundvoraussetzungen für den Spracherwerb ist.
Im ersten Kapitel von „Jenseits von Gut und Böse“ beschreibe ich die Folgen dieses Unterschieds wie folgt (S.81f.):
Dass die kleinen biologischen Unterschiede im Imitationsverhalten zwischen Mensch und Schimpanse letztlich so große kulturelle Divergenzen hervorrufen würden, wie wir sie heute beobachten können, war am Anfang der hominiden Entwicklung kaum absehbar. Die ersten Menschenarten unterschieden sich in ihrem Verhalten nicht allzu sehr von Schimpansen, Bonobos oder Gorillas. Und selbst beim anatomisch modernen Menschen trieb die kulturelle Evolution anfangs noch keine allzu exotischen Blüten, verbrachte er doch 95 Prozent seiner bisherigen Existenz (190 000 von 200 000 Jahren) als Jäger und Sammler.
Dass vor wenigen Jahrtausenden die Zivilisation entstand und die kulturelle Evolution der Menschheit einen völlig anderen Verlauf nahm, ist wesentlich darauf zurückzuführen, dass damals erstmals Systeme entwickelt wurden, die es erlaubten, Lernerfahrungen in präziserer Weise an nachkommende Generationen weiterzugeben. In erster Linie sind hierbei die Erfindung der Schrift und der mathematischen Zahlensysteme zu nennen. Während die Worte der gesprochenen Sprache im Raum verhallen und bei der Übermittlung von A nach B häufig Kopierverluste auftreten (man denke an das Prinzip der „Stillen Post“), ermöglicht die Schriftsprache eine nachhaltige Konservierung des originalen Inhalts über Raum und Zeit hinweg. Gleiches gilt für die schriftliche Fixierung mathematischer Berechnungen. So können wir noch heute von dem vor über 2300 Jahren entstandenen mathematischen Lehrbuch des Euklid (Die Elemente) profitieren. Die Erfindung von Medien war also das kulturelle Schlüsselereignis in der Geschichte der Menschheit. Sie erst brachte den kulturellen Evolutionsprozess richtig in Schwung.
2. Teil: Kulturelle Evolution, virtuelle Selbste und die Illusion des freien Willens
Die beschleunigte kulturelle Evolution hatte selbstverständlich nicht nur Auswirkungen auf die zunehmend von kulturellen Artefakten bestimmte Außenwelt des Menschen, sondern auch auf seine Innenwelt. Denn um sich in den zunehmend komplexer werdenden sozialen Gruppen zurechtzufinden, wurde es erforderlich, ein „virtuelles Ich“ auszubilden. Ich zitiere nachfolgend etwas ausführlicher aus dem zweiten Kapitel von „Jenseits von Gut und Böse“ (S.133ff.), da die Illusion der Willensfreiheit (also der vermeintlichen Freiheit, losgelöst von determinierenden Ursachen Entscheidungen treffen zu können) ganz wesentlich durch das biologisch-kulturelle Artefakt des „virtuellen Ichs“ erzeugt wird (die vielen Fußnoten der Passage lasse ich weg):
Offenbar benötigt das Gehirn die Simulation eines virtuellen Ich, um sich angemessen in der Welt verhalten zu können. Um dieses Argument, das vor allem der in Mainz lehrende Neurophilosoph Thomas Metzinger ausgeführt hat, zu verstehen, müssen wir etwas ausholen: Zunächst sei an die weiter oben getroffene Feststellung erinnert, dass die Entstehung komplexerer Hirne im Verlauf der hominiden Entwicklung wesentlich darauf zurückzuführen ist, dass deren Träger den Vorteil größerer sozialer Intelligenz besaßen, also besser abschätzen konnten, mit wem sie auf welche Weise interagieren mussten, um ihren Zielen näher zu kommen. Solche soziale Intelligenz setzt eine Theory of Mind (Theorie des Geistes) voraus, also eine ungefähre Vorstellung darüber, welche Gefühle, Bedürfnisse, Absichten, Überzeugungen andere Personen haben könnten.
Zur Illustration: Nehmen wir an, X macht Ihnen ein verlockendes Angebot, etwa ein Traumhaus auf einer Südseeinsel zu finanziellen Traumkonditionen, mit dem Sie nicht gerechnet haben. Wenn Sie nicht völlig naiv sind, müssen Sie sich fragen, was hinter der Offerte steckt: Ist X einfach nur ein netter Kerl, der Sie großzügig an seinem Glück teilhaben lassen will? Oder ist er ein besonders gerissener Bursche, der die Leute übervorteilt? Falls Letzteres zutrifft: Vielleicht haut er ja nur andere übers Ohr, Sie aber nicht? Oder müssen gerade Sie bei ihm besondere Vorsicht walten lassen? Haben Sie ihm irgendwann Schaden zugefügt? Will er sich jetzt rächen? Könnte er auf irgendetwas neidisch sein, das Sie besitzen?
Um X richtig einschätzen zu können, muss Ihr Gehirn ihn virtuell simulieren und die von ihm möglicherweise ausgehenden Handlungen und deren Folgen durchspielen. X wird dabei als eigenständig agierendes, mentales Selbst konstruiert, was spiegelbildlich auch die Simulation eines eigenen virtuellen Ich notwendig macht, das in Beziehung zu X gesetzt werden kann. Wenn Sie darüber nachdenken, wie Sie sich gegenüber X verhalten sollten, so simuliert Ihr Hirn ein virtuelles Rollenspiel in einer virtuellen Wirklichkeit, das Ihnen beziehungsweise Ihrem Gehirn eine komplexe, langfristige Handlungsplanung mit unterschiedlichen Alternativszenarios ermöglicht.
Solche virtuelle Simulationen im Gehirn sind für das Verhalten des Individuums von großer Bedeutung. Gerhard Roth schreibt: „Ohne die Möglichkeit zu virtueller Wirklichkeit und zu virtuellem Handeln könnte das Gehirn nicht diejenigen komplexen Leistungen vollbringen, die es vollbringt. Die Wirklichkeit und ihr Ich sind Konstruktionen, welche das Gehirn in die Lage versetzen, komplexe Informationen zu verarbeiten, neue, unbekannte Situationen zu meistern und langfristige Handlungsplanung zu betreiben. Wir sehen dies an der … Entwicklung des Kindes: das Kleinkind verfügt über bestimmte Formen des Bewusstseins, z. B. ein Wahrnehmungsbewusstsein, Aufmerksamkeit, ein Emotionsbewusstsein – Bewusstseinsformen, die sich auch bei anderen Primaten oder anderen Säugetieren finden … Aber erst die Entwicklung eines selbstbewussten Ich macht den Menschen zu einem hochflexiblen Akteur.“
Ein Erwachsener mit dem Selbstmodell eines Vierjährigen besäße in unserer Gesellschaft schlechte Karten. Er wäre nicht in der Lage, die komplexen Verhaltensmuster innerhalb der Gruppe zu durchschauen und angemessen darauf zu reagieren. Es bedarf schon einer über viele Jahre sich erstreckenden neuronalen Innenweltkonstruktion und des Aufbaus der Fiktion eines eigenständigen, all die verschiedenen Wahrnehmungen, Empfindungen, Gedanken, Erinnerungen integrierenden Ichs im Zentrum dieser Innenwelt, um sich in der Außenwelt halbwegs zurechtfinden zu können.
Wenn wir die Faktoren untersuchen, die zum Aufbau dieses virtuellen Selbst beitragen, so sind dies keineswegs bloß biologische Reifungsprozesse, sondern vor allem soziale Interaktionsmuster. „Erst in der Gruppe macht der Begriff ‚Ich’ überhaupt Sinn“, schreiben Werner Siefer und Christian Weber in ihrem Buch „Ich – Wie wir uns selbst erfinden“ und weisen damit zu Recht auf die konstitutive Bedeutung der Gruppe für die Ich-Identität hin. In der Tat belegen die Ergebnisse der Persönlichkeits- und Bewusstseinspsychologie, dass wir uns vor allem deshalb als eigenständig agierende Selbste empfinden, weil uns diese Eigenschaft von anderen zugeschrieben wird.
Kinder bauen ihr virtuelles Selbst vor allem dadurch auf, dass wir sie als eigenständig handelnde Akteure ansprechen („Du bist die Lea, ich bin die Mama“), sie für ihr Verhalten verantwortlich machen („Was hast du denn jetzt schon wieder angestellt?!“), sie loben („Das hast du aber brav gemacht!“) oder tadeln („Wehe, wenn du so etwas noch einmal tust!“). Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch die Geschichten, die wir Kindern erzählen oder die sie über Bücher und Filme vermittelt bekommen. Denn diese Geschichten sind, so Wolfgang Prinz, „vollgestopft mit Willens- und Handlungsjargon“. Sie tragen nicht nur dazu bei, die kulturspezifischen Sitten und Gebräuche, Wert- und Normvorstellungen, Mythen und Legenden in den Gehirnen der Kinder zu verankern, sondern erklären ihnen auch, „was Personen eigentlich sind, wie sie funktionieren und wie ihr Denken mit ihrem Tun zusammenhängt“. Diese kulturellen Informationen nisten sich mehr und mehr in unseren neuronalen Schaltkreisen ein und bilden dadurch die Grundlage für die Entstehung des virtuellen Ich.
Wir erkennen daran, dass das virtuelle Ich, das sich kontrafaktisch als Besitzer eines Körpers und unabhängigem Urheber aller Handlungen wähnt, keine Naturgegebenheit ist. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen kulturell sich überaus erfolgreich kopierenden Memplex, das heißt um eine fiktionale Geschichte, die uns im Verlauf unserer individuellen Entwicklung so lange erzählt wird, bis wir sie so sehr verinnerlicht haben, dass wir in unserem Denken, Handeln und Empfinden ganz selbstverständlich von der realen Existenz des uns bloß angedichteten Ichs ausgehen.
Vor der Erfindung des „ultimativen Memplexes“, wie die englische Psychologin Susan Blackmore die Fiktion des über dem Körper thronenden Selbst bezeichnet, nahmen Menschen sich und die Welt zweifellos auf eine völlig andere Weise wahr. Wann aber entstand der Memplex des frei agierenden Selbst? Der amerikanische Psychologe Julian Jaynes stellte die These auf, dass dies erst vor etwa dreitausend Jahren geschah. Aus der Lektüre alter Schriftquellen meinte er ableiten zu können, dass sich die Menschen der „vorhomerischen Zeit“ noch als von außen gelenkt empfanden und in Entscheidungssituationen „Stimmen von Göttern“ halluzinierten, welche ihnen sagten, was zu tun sei. Jaynes’ Thesen waren und sind bis heute heftig umstritten. Kaum zu leugnen ist allerdings, dass das moderne Selbstbewusstsein wohl ein relativ spät auftretendes Artefakt der kulturellen Evolution ist, das keineswegs automatisch mit dem biologisch bestimmten bloßen Menschsein verbunden ist.
Insofern dürfte auch Jaynes’ Analogie zwischen der Entwicklung des individuellen Bewusstseins und der Entwicklung der menschlichen Kultur prinzipiell richtig sein. Erwachsene vor 50 000 Jahren werden kaum über ein differenzierteres Ich-Bewusstsein verfügt haben als heutige Siebenjährige. Selbst gegenüber Personen, die vor, sagen wir einmal, zweihundert Jahren lebten, entwickeln wir gegenwärtig im Durchschnitt komplexere Ich-Identitäten. Warum? Weil die Vorstellungen, die wir uns über uns selbst und andere machen, maßgeblich von Memplexen geprägt sind, die Psychologen erst in den letzten hundert Jahren entwickelt haben.
Man muss keineswegs Freud, Skinner, Adler & Co. gelesen haben, um Konzepte des Unbewussten, der Konditionierung, des Minderwertigkeitskomplexes, der Traumatisierung etc. in seinem internen Ich- und Weltmodell wiederzufinden. Solche Meme und Memplexe werden uns nämlich Tag für Tag in Bildern, Filmen, Büchern, Fernsehsendungen, Zeitungen oder alltäglichen Gesprächen vermittelt. Es wäre einmal eine Untersuchung wert, zu schauen, wie viele sozialwissenschaftliche Memplexe allein in einfache Fernsehserien wie „Die Lindenstraße“ einfließen. Selbst die BILD-Zeitung ist voll davon. Der „transformative Kreislauf des Wissens“, sprich: die memetische Infizierung über alle Kulturbereiche hinweg, schreitet unaufhörlich voran. Dem kann sich niemand entziehen. Und so verstehen und erleben wir die Welt heute auf eine signifikant andere Weise als Menschen vorangegangener Epochen. (…)
Den Großteil der an einer Entscheidung beteiligten Meme nehmen wir nicht bewusst wahr (ein Aspekt, den die Werbeindustrie klug zu nutzen weiß!). Treten Meme jedoch ins Scheinwerferlicht des Bewusstseins, so interpretieren wir sie als Gründe. Wenn man uns fragt, warum wir bei der letzten Bundestagswahl Partei X gewählt haben, geben wir einen Grund an, etwa weil X in unseren Augen für soziale Gerechtigkeit oder gesellschaftlichen Fortschritt steht. Dass bei dieser Wahlentscheidung neben bewussten Gründen auch unbewusste Präferenzen mitschwingen (vielleicht finden wir die Stimme des Spitzenkandidaten von X einfach sympathischer als die des Kandidaten Y?), ist einigermaßen evident, schließlich finden ja 99,9 aller Hirnaktivitäten unabhängig von unserer Wahrnehmung statt. Das bedeutet jedoch keineswegs, dass die von uns als bewusst wahrgenommenen Gründe irrelevant sind. Das Gehirn würde ganz sicher nicht die enormen Energiekosten aufbringen, die mit dem bewussten Abwägen von Gründen verbunden sind, wenn diese nicht in irgendeiner Weise ursächlichen Einfluss auf das Verhalten nehmen würden.
Damit sind wir an einem neuralgischen Punkt der philosophischen Debatte angelangt. Philosophen neigen nämlich in der Regel dazu, strikt zwischen Ursachen und Gründen zu unterscheiden. Dabei begreifen sie „Ursachen“ als materielle Voraussetzungen für spezifische Wirkungen. So ist das Anschalten einer funktionstüchtigen Herdplatte die Ursache dafür, dass die Suppe kocht. „Gründe“ werden demgegenüber als ideelle Voraussetzungen für Handlungen verstanden. Wenn man uns fragt, warum wir die Herdplatte angeschaltet haben und ausgerechnet jetzt Suppe kochen, werden wir irgendeinen Grund angeben, etwa dass Tante Erna, die gleich zu Besuch kommt, so liebend gern Pfifferlingsrahmsuppe isst und wir ihr damit einfach eine Freude bereiten wollten.
Diese Unterscheidung zwischen Ursachen und Gründen ist auf der Erscheinungsebene zweifellos plausibel. Allerdings kann die hiermit meist verknüpfte Unterstellung, dass Gründe etwas ganz anderes seien als Ursachen, nach all dem, was wir bisher erläutert haben, nicht stimmig sein. Denn wie auch sollten angeblich „immaterielle“, auf einer rein geistigen Ebene existierende Gründe irgendwelche materiellen Wirkungen (etwa die Bewegung eines Arms zur Betätigung des Herdes) hervorrufen können? Hinter einer solchen Vorstellung steckt der alte, längst widerlegte Dualismus von Körper und Geist.
Wer solchem Hokuspokus (nichts anderes ist der Glaube an einen immateriell wirkenden Geist!) nicht auf den Leim gehen möchte, für den gibt es nur eine logische Schlussfolgerung: Ideelle Gründe müssen, sofern sie denn irgendetwas bewirken, materielle Ursachen sein! Was Gründe zu etwas Besonderem macht, ist allein die Tatsache, dass die neuronalen Muster, auf denen sie beruhen, im bewusstseinsfähigen, assoziativen Cortex angesiedelt sind – und nicht in jenen Hirnregionen, die der individuellen Wahrnehmung nicht zugänglich sind.
Wenden wir uns nun dieser Besonderheit zu: Warum hat die biokulturelle Evolution es so „eingerichtet“, dass manche Meme im Licht des Bewusstseins auftauchen, während andere im Schatten des Unbewussten verbleiben? Eine nahe liegende Vermutung wäre, dass bewusste Gründe zur Aufrechterhaltung des virtuellen Selbst erforderlich sind. Ein sich als autonom wähnendes Ich muss schließlich wissen, was es tut und aus welchen Gründen es sich genau so und nicht anders verhält.
Für diese Deutung spricht, dass das Gehirn im Notfall, wenn es die Ursachen körperlicher Reaktionen nicht eruieren kann, sich regelrecht „das Blaue vom Himmel lügt“, um dem Ich unerklärliche Verhaltensweisen doch irgendwie verständlich zu machen. Dies belegen vor allem jene Fälle, bei denen Chirurgen im Zuge neuronaler Untersuchungen bestimmte Hirnregionen ihrer Patienten durch elektrische Impulse stimulierten, was mitunter heftige emotionale Reaktionen hervorrief.
Bei der Patientin A. K. beispielsweise löste die Stimulation einer Region des linken Frontallappens herzhaftes Gelächter aus. Damásio berichtet: „Das Gelächter war vollkommen echt, so echt, dass die Beobachter es als ansteckend beschrieben. Es kam aus heiterem Himmel – der Patientin wurde nichts Komisches gezeigt oder erzählt, und sie dachte auch an nichts, was das Lachen hätte auslösen können. Trotzdem fand es statt, ein vollkommen unmotiviertes, aber realistisches Lachen.“ Interessant war nun, wie A. K. beziehungsweise ihr Gehirn diese Reaktionen deutete: Es stellte sich nämlich heraus, „dass die Patientin anschließend als Grund des Lachens jedes Objekt angab, auf das sie sich zum Zeitpunkt der Stimulation gerade konzentriert hatte. Zeigte man der Patientin beispielsweise das Bild eines Pferdes, sagte sie: ‚Das Pferd ist komisch.’ Gelegentlich mussten die Forscher selbst als emotional besetzter Reiz herhalten, dann sagte sie: ‚Oh, Leute, ihr seid einfach zu komisch … wie ihr da so herumsteht.’“
Um die Illusion des virtuellen Selbst aufrechtzuerhalten, spiegelte A. K.s Gehirn ihr plausibel erscheinende Gründe für die Heiterkeit vor, die in Wahrheit jedoch von einer völlig anderen Ursache, nämlich der elektrischen Stimulation ihres Frontallappens, ausgelöst wurde. Selbst wenn man A. K. das deutsche Postleitzahlenverzeichnis vorgelesen hätte, hätte sie sich wohl vor Lachen gebogen und dies wahrscheinlich pseudorational damit begründet, dass sie Postleitzahlen einfach urkomisch findet. (Wichtig ist dabei festzuhalten, dass A. K.s Reaktionen nicht pathologisch waren. Uns erginge es nicht anders als ihr, wenn wir den gleichen Stimulationen ausgeliefert wären!)
Es gibt also gute Argumente dafür, dass Gründe für das virtuelle Selbst notwendig sind, damit es sich als handelnd erleben und auch andere als Handelnde einschätzen kann. Doch ist dies die einzige Erklärung dafür, weshalb unser Organismus die beträchtlichen Stoffwechselkosten auf sich nimmt, die unweigerlich auftreten, wenn wir die Stichhaltigkeit von Gründen und Begründungen in bewussten Denkvorgängen beleuchten?
Ich meine, dies wäre zu kurz gedacht. Bewusste Begründungen sind nicht nur notwendig, um unserem virtuellen Selbst zu erklären, warum es sich so und nicht anders verhält, sondern auch, weil nur auf diese Weise komplexe Verhaltensänderungen möglich sind. Denn so klein der Arbeitsspeicher des Bewusstseins auch ist und so langsam er im Vergleich zu unbewussten Hirnvorgängen auch getaktet ist, er hat einen großen Vorteil: Er erlaubt eine konzentrierte Untersuchung eng umrissener Probleme, für die im informationsverarbeitenden System des Gehirns noch keine befriedigenden Lösungen gefunden wurden.
Das explizite, deklarative Bewusstsein ist also nicht bloß ein Epiphänomen (also eine Wirkung, die selbst nichts bewirkt), sondern „ein besonderes Werkzeug des Gehirns“, das von diesem eingesetzt wird, „wenn es um neuartige kognitiv oder motorisch schwierige und bedeutungshafte Probleme geht, die es zu lösen gilt“. Wie Gerhard Roth betont, unterziehen wir uns den Mühen einer bewussten Denkarbeit nur, „wenn ein Geschehnis oder eine Aufgabe als neu und wichtig eingestuft wurde, z. B. im Zusammenhang mit dem Erfassen neuartiger Sachverhalte, neuer Bedeutungen von Objekten, Geschehnissen, Sätzen, dem Erlernen neuer motorischer Fertigkeiten, dem Vorstellen und Erinnern neuer, komplexer Inhalte, dem Aussprechen neuer komplizierter Sätze … dem aktiven Erinnern von ‚Wissen’ … In dem Maße, in dem die Leistungen wiederholt werden, sich einüben und schließlich mehr oder weniger automatisiert und damit müheloser werden, schwindet auch der Aufwand an Bewusstsein und Aufmerksamkeit, bis schließlich – wenn überhaupt – nur ein begleitendes Bewusstsein übrig bleibt.“
Bewusste Denkvorgänge sind also, auch wenn sie weniger als 0,1 Prozent der gesamten Hirnaktivität repräsentieren, für unsere Verhaltenssteuerung unerlässlich. Wir wägen verschiedene Handlungsmöglichkeiten gegeneinander ab, untersuchen die Argumente, die für diese oder jene Sichtweise sprechen, und entscheiden uns dann für die Option, die uns als die sinnvollste erscheint. Und selbstverständlich kann diese letztlich bevorzugte Option durchaus eine andere sein als jene, für die wir noch zu Beginn des bewussten Denkprozesses votierten.
Dies wirft eine interessante Frage auf: Belegt eine solche Fähigkeit zur Umentscheidung nicht doch, was oben bestritten wurde, dass wir fähig sind, anders zu wollen, als wir wollen? Könnte es sein, dass diese 0,1 Prozent aller Hirnvorgänge, also die unter dem Scheinwerferlicht des Bewusstseins stattfindenden Denkprozesse, genau das ausmachen, was man sinnvollerweise unter dem Begriff „Willensfreiheit“ fassen könnte?
Die Argumentation mancher Philosophen scheint genau in diese Richtung zu gehen. So schreibt etwa Julian Nida-Rümelin: „Die Freiheit, die wir voraussetzen müssen, ist … die der Deliberation, der Abwägung theoretischer und praktischer Gründe … Wenn wir den Eindruck haben, dass jemand nicht in der Lage ist, Gründe abzuwägen, so ziehen wir ihn nicht oder nur eingeschränkt zur Verantwortung. Wir glauben dann nicht, dass er frei sei in seinen Entscheidungen. Wir werden ihm manches nicht übel nehmen, was wir anderen, freien, rationalen und verantwortlichen Menschen übel nehmen würden.“
So einsichtig derartige Überlegungen uns „virtuellen Selbsten“ auch erscheinen mögen, sie beruhen letztlich auf dem oben bereits dargestellten, dualistischen Irrtum, dass geistige Gründe etwas anderes seien als materielle Ursachen. Wir hatten dem Zweierlei entgegengehalten: Erstens, dass Gründe, sofern sie denn irgendetwas bewirken, selbst Ursachen sein müssen, und zweitens, dass uns Gründe nur deshalb als etwas Besonderes erscheinen, weil sie an anderer Stelle, nämlich im assoziativen Cortex, neuronal kodiert sind als unbewusste Hirnvorgänge. Eingedenk der Funktion, die bewussten Denkprozessen im Kontext der Verhaltenssteuerung zukommt, bietet sich für den idealistisch umnebelten Begriff „Gründe“ somit eine einfache, naturalistische Definition an: Gründe sind Meme, die ein Gehirn vor dem Hintergrund der ihm vorliegenden Informationen für die Klärung eines anstehenden Problems als so bedeutsam erachtet, dass es sie einer bewussten Bewertung im assoziativen Cortex unterzieht.
Vor dem Hintergrund dieser Definition wird klarer, warum es ein freies, das heißt akausales Abwägen von Gründen gar nicht geben kann. Wer meint, dass die Gedanken und damit auch unser Wille „frei“ seien, der übersieht nämlich, dass unsere Denkprozesse durch Myriaden von Faktoren ursächlich bestimmt werden, die sich der Kontrolle virtueller Selbste prinzipiell entziehen. In diesem Zusammenhang sind nicht nur die biologisch vorgegebenen Beschränkungen unseres Denkvermögens zu berücksichtigen (als Spezies allgemein sowie auch als Individuen mit unterschiedlichen intellektuellen Veranlagungen), sondern vor allem der Einfluss kultureller Variablen. So können selbstredend nur solche Meme im Bewusstsein verarbeitet und unter Umständen denkerisch modifiziert werden, die im Verlauf der kulturellen Evolution bereits entwickelt wurden. (Es ist daher unsinnig, einem antiken Tyrannen mit dem Brustton moralischer Empörung vorzuwerfen, dass seine Politik gegen Menschenrechte verstieß. Wie auch hätte die Idee der Menschenrechte für ihn handlungsleitend sein können? Der „Memplex der universellen Menschenrechte“ wurde schließlich erst in einer viel späteren Kulturstufe entwickelt.)
Doch selbst unter der Voraussetzung, dass sich ein Mem bereits kulturell erfolgreich kopieren konnte und ein Individuum davon Kenntnis erlangte, heißt das nicht, dass sein Gehirn diese Information in einer Entscheidungssituation auch als so bedeutsam erachtet, dass es sie in den bewussten Arbeitsspeicher lädt. Und selbst wenn dies geschehen sollte, ist damit noch keineswegs gesagt, dass dieses Mem in irgendeiner Weise handlungsrelevant wird. Schließlich steht dieses eine Mem in Konkurrenz zu vielen anderen Memen, die das Gehirn im Verlauf seiner Entwicklung gespeichert hat. Und möglicherweise sind die neuralen Verschaltungen des Gehirns aufgrund spezieller Vorerfahrungen genau so ausgelegt, dass es diesen alternativen Memen notwendigerweise den Vorzug geben muss.
So konnten die Anhänger des Nationalsozialismus, deren Weltbild maßgeblich vom antijüdischen Memplex geprägt war, unter dem Diktat dieses verheerenden Memplexes schlichtweg nicht im Sinne der universellen Menschenrechte denken. Es bedurfte schon einiger einschneidender Erfahrungen wie die der vernichtenden militärischen Niederlage Deutschlands und der nachfolgenden breiten Aufklärungskampagnen, um zumindest einige der ehemaligen Täter und Mitläufer des nationalsozialistischen Regimes zum Umdenken zu bewegen. Doch selbst dies reichte bei manchen Überzeugungstätern bekanntlich nicht aus. Manche NS-Anhänger waren so gefangen im Wahnsystem des antijüdischen Memplexes, dass sie bis zu ihrem Ende an den irrsinnigen Dogmen ihres politischen Glaubenssystems festhielten.
„Ein Kopf denkt nie allein“, hat Karlheinz Deschner einmal formuliert und damit die Abhängigkeit unserer individuellen Vorstellungen von den kulturellen Vorgaben (Memplexen) unserer Umgebung auf den Punkt gebracht. Gehirne sind eben keine geschlossenen Systeme, sondern Knoten in einem weit verästelten, kulturellen Netzwerk. Und so müssen wir uns auch nicht darüber wundern, dass Meme, die in diesem Netzwerk nicht hinreichend kulturell verankert sind, keinen Zugang zu unserem Denkapparat finden. Wir können allenfalls weiterdenken, was andere schon vor uns gedacht haben. Doch selbst dieses „Weiterdenken“ ist nicht frei, beliebig, unbegründet, sondern vielmehr das notwendige Resultat hochkomplexer, chaotisch-deterministischer Wechselwirkungen zwischen uns beziehungsweise dem unserem virtuellen Selbst zugrunde liegenden neuronalen Mustern und unserer Umwelt.
Wenn wir den Satz „Die Gedanken sind frei!“ aufrechterhalten wollen, so dürfen wir ihn nicht im Sinne des klassischen Willensfreiheitsbegriffs verstehen (schließlich sind Gedanken Ursachen, die ebenfalls auf Ursachen zurückzuführen sind!), sondern müssen ihn als Ausdruck innerer Handlungsfreiheit begreifen: Wir sind frei, zu denken, was wir wollen, sofern wir nicht von Zwangsgedanken beherrscht werden oder – beispielsweise beim Eintreten von Altersdemenz – spüren, dass wir zunehmend die kognitiven Fähigkeiten verlieren, die zur reibungslosen Durchführung bewusster Denkoperationen erforderlich sind.
Wie aber steht es nun um das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“? Immerhin hatten wir doch festgestellt, dass wir mithilfe bewusster Überlegungen unsere Entscheidung reflektieren und somit andere Entscheidungen treffen können, als wir sie zuvor im Auge hatten. Wird dadurch nicht doch irgendwie die Annahme von Willensfreiheit legitimiert?
Keineswegs! Denn das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ unterstellt, dass wir gerade in dem Moment, in dem wir eine Entscheidung trafen, uns auch anders hätten entscheiden können. Im Kontrast dazu hatten wir jedoch festgestellt, dass wir mitunter aufgrund bewusster Überlegungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Entscheidungen treffen würden. Nachdem wir über Sachverhalte nachgedacht haben, sehen unsere Entscheidungen unter Umständen völlig anders aus als vor dem Prozess des bewussten Abwägens von Gründen. Das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ findet durch dieses Faktum des Anderswollen-Könnens im Zuge eines bewussten Denkprozesses keinerlei Rückhalt. Im Gegenteil: Zum Zeitpunkt T1 (vor der bewussten Überlegung) hätten wir ebenso eindeutig für A votiert, wie wir zum Zeitpunkt T2 (nach der Überlegung) für B votierten.
Greifen wir zur Illustration noch einmal auf das Beispiel des verlockenden Immobilienangebots von X zurück. Nehmen wir an, Sie sähen Ihr Glück tatsächlich darin, eine Luxusimmobilie in der Südsee zu erwerben (es soll ja Leute geben, die den memetischen Reizen der Eiscremewerbung unterliegen …). Nehmen wir ferner an, X würde Sie unter Druck setzen, sich möglichst auf der Stelle zu entscheiden („Zögern Sie nicht, sonst greift ein anderer zu!“), und Sie wären zudem auch noch naiv genug, um sich auf so etwas einzulassen. Unter solchen Voraussetzungen könnten Sie gar nicht anders, als sich für das Angebot zu entscheiden.
Nun aber sind Sie aufgrund Ihrer bisherigen Lebenserfahrungen nicht ganz so naiv. Irgendwie, so erinnern Sie sich, haben Sie beiläufig mitbekommen, dass eine Gruppe von Leuten, darunter einige Prominente, mit ähnlichen Angeboten über den Tisch gezogen wurde. Sie fordern also Bedenkzeit und beginnen damit, Recherchen über X und sein Angebot anzustellen. Glücklicherweise ist das Internet bereits erfunden, und so stoßen Sie schnell auf Menschen, die von X hinters Licht geführt wurden. Es zeigt sich, dass die vermeintliche Luxusimmobilie in Wahrheit ein Albtraum in Beton ist, ohne ordentliche Kanalisation, Wasser- und Stromversorgung. Haben Sie solche Informationen erst einmal erworben, so können Sie sich, die Sie ja für sich nur das Beste wollen, natürlich nur gegen das Angebot entscheiden.
Die Fähigkeit zu bewusster Verhaltenssteuerung hat mit Willensfreiheit also nichts zu tun. Dass wir an uns, unseren Vorstellungen, Überzeugungen, Meinungen, Präferenzen und nicht zuletzt sogar an unseren eigenen Willensbestrebungen arbeiten können, zeigt bloß, wie weit das Spektrum menschlicher Handlungsfreiheiten reichen kann. Selbstverständlich können wir uns vornehmen, unseren „Willen zur Zigarette“ oder den „Willen zum Halten von endlosen Monologen auf Diskussionsveranstaltungen“ aufzuheben. Allerdings: Damit wir Derartiges anstreben, muss bereits ein entsprechender Wille (ein entsprechendes neuronales Muster) vorhanden sein, der unsere Energie in eine solche Richtung lenkt – und ein solcher „Meta-Wille zur Veränderung des eigenen Willens“ ist selbstverständlich ebenso determiniert wie jede andere Willensbestrebung.
Wenn es uns gelingen sollte, unseren eigenen Willen kraft eines solchen Meta-Willens zu verändern, ist dies eine großartige kognitive Leistung – und man kann dies zweifellos als einen hervorragenden Beleg für innere Handlungsfreiheit begreifen (wir haben es ja geschafft, das zu tun, was wir wollten, nämlich unseren Willen zu verändern). Wir besitzen aber selbst in diesem glücklichen Falle noch immer keinen „freien“, der Naturkausalität enthobenen, sondern bloß einen von bestimmten Determinanten befreiten Willen, der selbstverständlich ebenso sehr wie die vorangegangenen Willensbestrebungen durch Determinanten (nämlich durch entsprechende neuronale Muster beziehungsweise indirekt durch den Kopiererfolg genetischer und/oder memetischer Replikatoren) bestimmt ist.
Es bleibt also dabei: Willensfreiheit ist nichts als eine Chimäre, ein Trugbild, für das es in der Realität keinerlei Entsprechung gibt.
Wie dieser längere Auszug aus dem zweiten Kapitel von „Jenseits von Gut und Böse“ zeigt, steht der Anhang (der erst ab der 5. Auflage hinzugefügt wurde) keineswegs im Widerspruch zu den sonstigen Aussagen des Buchs (oder zu irgendeiner meiner anderen Veröffentlichungen), vielmehr liefert er auf abstrakterer, metatheoretischer Ebene eine naturalistische Begründung für die von mir schon immer vertretene Auffassung, dass „virtuelle Selbste“, „Gründe“ oder „Kulturen“ nicht bloß Epiphänomene biologischer oder gar physikalischer Prozesse sind. Einen eliminatorischen Reduktionismus habe ich niemals (weder in meinen Schriften noch bei meinen Treffen mit Paul Schulz) vertreten (ein solcher Reduktionismus würde ja auch den Beruf des Philosophen völlig unnötig machen), wohl aber habe ich darauf hingewiesen, dass biologische Erklärungsmuster auch im Bereich der Kultur beachtet werden sollten, da sie nun einmal notwendig (wenn auch nicht hinreichend) sind, um kulturelle Phänomene deuten zu können.
Diese Betonung des „reduktionistischen Erbes emergenter Phänomene“ war vor allem angesichts der zeitweiligen Dominanz idealistischer Denkmuster in der akademischen Philosophie dringend erforderlich – mehr sollte der von Paul Schulz in seinem Beitrag zitierte Satz nicht bedeuten, was aus dem Kontext des Anhangs auch klar hervorgeht. Halten wir also fest: Selbstverständlich hebt der Anhang von „Jenseits von Gut und Böse“ den von mir seit jeher vertretenen emergentischen Determinismus nicht aus den Angeln. Im Gegenteil: Er liefert ein allgemeines, naturalistisches Erklärungsmodell dafür, warum unser Denken, Empfinden und Handeln nicht nur von den allseits bekannten mikrodeterministischen, sondern eben auch von makrodeterministischen Kräften bestimmt wird.
3. Teil: Selbstbestimmung, Verantwortung, Fatalismus
In seinen „Rückfragen 3“ (auf die „Rückfragen 2“, die mit dem Thema Willensfreiheit“ nichts zu tun haben, gehe ich am Schluss meines Beitrags ein) belegt Paul Schulz einmal mehr, dass er meine Darlegungen zum Thema offenkundig nicht besonders gründlich gelesen hat, denn ansonsten würden sich seine Fragen von selbst erledigen. Er schreibt: „Menschen ohne Gott, ob säkulare Humanisten, Freidenker, Agnostiker, allen voran bekennende Atheisten sprechen immer wieder von größtmöglicher Selbstbestimmung des Menschen in allen wichtigen ethischen Fragen, vom § 218 bis zum humanen Sterben. 1. Widerspricht nicht fehlender oder auch eingeschränkter freier Wille der Fähigkeit des Menschen zur Verantwortung? Kann man ohne oder mit nur eingeschränktem freien Willen ethisch verantwortlich handeln? 2. Kann man den Menschen wirklich, wenn man die derzeitige Welt als verantwortungslos brandmarkt, in eine zu verantwortende Zukunft schicken mit der These: Der Mensch hat keinen freien Willen? Alles ist letztlich Schicksal? Sind Sie nicht doch Fatalist? 3. Schafft Atheismus denn unserer angespannten Welt die Realitätsgewissheit einer >entspannten Gesellschaft< > jenseits von Gut und Böse? < Ist das nicht eben so wirklichkeitswidrig und utopisch wie Religion?“
Auf all diese Fragen bin ich in „Jenseits von Gut und Böse“ bereits ausführlich eingegangen, so dass es einigermaßen ermüdend ist, hier noch einmal das Gleiche wiederholen zu müssen. Ich versuche daher, die Antworten möglichst kurz zu halten:
Zunächst zur Frage der Selbstbestimmung: Paul Schulz verkennt, dass Selbstbestimmung ein Element der Handlungsfreiheit ist – nicht der Willensfreiheit. Dies ist – wie ich im zweiten Kapitel von „Jenseits von Gut und Böse“ ausführlich begründe (S.116ff.) – auch der Grund dafür, warum der Abschied von der Willensfreiheit unsere zentralen Freiheitsintuitionen, unsere Freiheitswünsche, gar nicht betrifft. Denn die Freiheit, die wir meinen, wenn wir diesen Begriff emphatisch benutzen, ist stets eine Freiheit des Tuns: Frei sein, das bedeutet, tun zu können, was man will (Handlungsfreiheit) – es bedeutet nicht, zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas anderes wollen zu können als das, was man will (Willensfreiheit). Die Freiheit, um die es uns geht, ist eine Freiheit von den Zwängen, die unserem Willen entgegenstehen, keine Freiheit von den Ursachen, die unseren Willen bestimmen! Wir sind frei, wenn uns weder äußere Zwänge (etwa diktatorische Maßnahmen des Staates) noch innere Zwänge (beispielsweise irrationale Ängste) davon abhalten, unseren Willen in die Tat umzusetzen. Fallen innere und äußere Handlungsfreiheit zusammen, so können wir tun, was wir wollen – wir sind frei im wahrsten Sinne des Wortes. Für diese „Freiheit von Zwängen“ (Handlungsfreiheit) kämpfen wir als Humanisten – sich für eine „Freiheit von Ursachen“ (Willensfreiheit) einzusetzen, wäre töricht.
Zum Thema Verantwortung: Wir sollten lernen, zwischen der ethischen Frage nach der objektiven Verantwortbarkeit einer Tat und der moralischen Frage nach der subjektiven Schuld des Täters zu unterscheiden. Moralische Argumentationen zielen auf die Frage der persönlichen Schuldfähigkeit ab und bauen daher notwendigerweise auf dem Konzept der Willensfreiheit auf, d. h. der Unterstellung, dass eine Person sich unter exakt denselben Bedingungen anders hätte entscheiden können, als sie sich de facto entschieden hat. Eine (naturalistische) ethische Argumentation kann auf solch problematische Annahmen verzichten, weil sie prinzipiell nur nach der objektiven Verantwortbarkeit potenzieller oder bereits realisierter Taten fragt, nicht nach der subjektiven Schuld (also der Willensfreiheit) der Täter. Wir müssen nicht unterstellen, dass Hitler, Stalin, Konstantin der Große oder Papst Innozenz III. sich aus „freien Stücken“ zu ihren Untaten entschlossen haben, um diese ethisch verurteilen zu können. Die (a)moralische Entschuldigung der Täter („Hitler, Stalin & Co. konnten sich unter den gegebenen Bedingungen leider nicht anders verhalten, als sie es taten“) läuft also keineswegs auf eine ethische Rechtfertigung ihrer Taten heraus (siehe hierzu das Kapitel 3 von „Jenseits von Gut und Böse“, das derartige Fragen ausführlich behandelt).
Zum Thema Fatalismus: Im Abschnitt „Jenseits des Fatalismus“ (ebenfalls Bestandteil des 3. Kapitels von „Jenseits von Gut und Böse“) zeige ich auf, dass wir auch nach dem Abschied von der Willensfreiheit keineswegs bloß Automaten sind, die auf dem Laufband der Zeit das abspulen müssten, was einer vermeintlich vorangegangenen Programmierung entspricht. Vielmehr sind wir als lebende, d.h. Wohl und Wehe empfindende Wesen dazu verurteilt, auf kreative Weise stets das Beste aus den gegebenen Rahmenbedingungen herauszuholen. Und eben dies lenkt den Fluss der Ereignisse immer wieder in neue Bahnen. Der Fatalismus scheitert also an einem fundamentalen Naturgesetz des Lebens: Unser Wille ist zwar determiniert, durch Ursachen bestimmt, aber zu diesen Ursachen gehört auch der biologische Druck, kreativ zu sein, d.h. aus dem Vorgegebenen Neues zu schöpfen. Unsere Zukunft bleibt daher offen – selbst in einem von Ursachen bestimmten, deterministischen Universum.
Homo demens versus Homo sapiens
Paul Schulz‘ „Rückfragen 2“ haben mit dem Thema unserer Debatte eigentlich nichts zu tun. Da er sie aber nun einmal aufgeworfen hat, möchte ich auch sie kurz beantworten. Paul Schulz schreibt: „In Ihrem neuen Buch KEINE MACHT DEN DOOFEN vertreten Sie ein sehr aggressives Menschenbild gegen die Menschheit schlechthin, aber auch gegen jeden Einzelnen. 1. Hat Ihr Sinneswandel in der Frage der Willensfreiheit eine Bedeutung für Ihr Menschenbild, wenn ja, welche? 2. Sehen Sie, wenn ja, diesen Neuansatz in Ihrem neuen Buch konsequent umgesetzt? 3. Würden Sie selber einem Anderen ernsthaft zuhören, wenn er Ihnen – etwa im Zusammenhang mit der Präsidentenwahl in den USA – die Probleme der Welt und des täglichen Lebens in einer derart bös verallgemeinernden Kritik vorführt: Alles Doofe alles Religioten, Politidioten und Ökonomioten?“
Zunächst einmal sollte man hier festhalten, dass „Keine Macht den Doofen!“ – im Unterschied etwa zu „Jenseits von Gut und Böse“ – eine Streitschrift ist. Der Text zählt also zu einer bestimmten Literaturgattung, für die es nun einmal charakteristisch ist, zu provozieren und die Dinge soweit zuzuspitzen, dass die Darstellung mitunter auch als Beleidigung empfunden werden kann. Allerdings steht hinter meinem streitbaren Verriss des irren, wahnsinnigen Menschen (Homo demens) ein humanistisches Ziel, gilt es doch die Kräfte zu stärken, die den klugen, weisen Menschen (Homo sapiens) hervorbringen. (Diesem „klugen, weisen Menschen“ ist übrigens mein nächstes Buch gewidmet, das in gewisser Hinsicht als „Gegenbuch“ zu „Keine Macht den Doofen!“ gelesen werden kann…)
Zu den Fragen, die Paul Schulz stellte: 1. Da es keinen „Sinneswandel in der Frage der Willensfreiheit“ gab, hat sich mein Menschenbild selbstverständlich auch nicht gewandelt. 2. Mein Denkansatz ist in „Keine Macht den Doofen!“ konsequent umgesetzt, allerdings spiegelt das Buch nur einen bestimmten Aspekt meiner Philosophie – und zwar in einem bestimmten formalen Gewand – wider. (Als Musiker neige ich dazu, meine philosophischen Bücher als Sätze eines größeren Werks zu sehen: Das „Manifest des evolutionären Humanismus“ war der Eröffnungssatz, der im Kern bereits alle Themen der späteren Sätze erhielt; „Jenseits von Gut und Böse“ das Adagio, das das wohl wichtigste Thema meiner Philosophie breit entfaltete; „Keine Macht den Doofen!“ das Scherzo, das vor dem großen Finale (das im Frühjahr 2014 bei Piper erscheint) einen spielerisch-ironischen Kontrapunkt zu den übrigen Sätzen darstellt.) 3. „Keine Macht den Doofen!“ beschäftigte sich nicht mit individuellen Minderbegabungen, sondern mit systemischen Zwängen, die notwendigerweise zu Prozessen von Schwarmdummheit auf verschiedenen Gebieten führen. Insofern sollte das Buch Individuen eigentlich nicht beleidigen (manche Individuen identifizieren sich allerdings so stark mit den jeweiligen systemischen Zwängen, dass sie sich dennoch subjektiv betroffen fühlen). Davon abgesehen möchte ich antworten: Ja, ich höre anderen auch dann ernsthaft zu, wenn sie mich beleidigen oder Dinge, die ich gesagt oder geschrieben habe, in grober Weise missdeuten. Dies belegt schon allein die Tatsache, dass ich nach all den an Diffamierung grenzenden Missdeutungen, die Paul Schulz mir in seinem letzten Text zukommen ließ, diesen zweiten Beitrag zum Erkenntnisduell verfasst habe.
Produktiv ist ein solches Zuhören allerdings nur, wenn der Kommunikationspartner neue Argumente vorbringt, die man selbst übersehen hat. Dies hat Paul Schulz bisher nicht getan. Insofern bin ich gespannt auf seinen dritten Beitrag zum Thema „Der Wille erlangt im Neokortex seine größtmögliche Freisetzung als Entscheidungswille des Ich-Bewusstsein“. Ich hoffe sehr, dass er in diesem Text Argumente aufzeigt, die über das hinausgehen, was ich in „Jenseits von Gut und Böse“ (etwa in der oben zitierten längeren Passage zum Phänomen des virtuellen Selbst aus dem 2. Kapitel des Buchs) dargelegt habe. Großartig wäre es, wenn er das „Prinzip der alternativen Möglichkeiten“ begründen könnte, auf dem die starke Willensfreiheitsbehauptung fußt. In diesem Fall hätte ich dieses Erkenntnisduell zwar verloren, aber etwas sehr viel Wichtigeres hinzugewonnen, nämlich Erkenntnis. Schon Epikur wusste: „In einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung hat der Unterlegene den größeren Gewinn, und zwar in dem Maße, in dem er etwas hinzulernt.“ Wird Paul Schulz in der kommenden dritten Runde die Argumente hervorbringen, mit denen er meine Darlegungen zur Willensfreiheitsthematik aus den Angeln hebt? Nach dem Verlauf der ersten beiden Runden bin ich doch sehr skeptisch, ob es zu einem solchen Erkenntnisfortschritt kommen wird. Aber die Hoffnung, so heißt es, stirbt stets zuletzt…